Ich öffne meine Augen und Alptraum und Wirklichkeit sind nicht mehr zu trennen. Die verschwimmenden Grenzen nicht mehr zu leugnen. In der Nacht ging ich über orangenen Sand, an knallgrünen Flüssen vorbei, so grün wie die Reisfelder in Vietnam. Ich war erregt, Farben zu sehen, die ich so noch nie gesehen hatte. In dieser Landschaft aber herrschte absolute Stille. Ich begann zu rennen. Niemand war da, um die Stille zu brechen.
Gestern spazierte ich durch mein Heimatdorf. Es herrschte absolute Stille. Nur der Hofhund kläffte von weitem. Jener Hund, der mir bereits als Kind Angst eingejagt hatte, weil er auf Spaziergänger losging. Als es noch Spaziergänger gab. War es derselbe Hund? Hunde werden keine dreissig Jahre alt. Meine Gedanken fanden keine Ruhe an diesem Ort, wo die Menschen einsam in ihren Einfamilienhäusern leben, abends erschöpft von ihrer Arbeit in die Betten sinken, weder spazieren gehen, noch jassen, stattdessen Fern sehen und sich gegenseitig an Gemeindeversammlungen bekämpfen. Ich habe noch ein anderes Dorf gekannt. Ich hatte noch Spielkameraden.
In dieser Tristesse kam mir auf dem Fahrrad der Pfarrer entgegen. Es dauerte einen Moment, bis ich ihn erkannte, schliesslich waren wir uns bisher nur auf Beerdigungen begegnet. Der einzige Mensch, der noch nach Worten suchte, im Moment des grössten Verlustes, der einzige, dessen Business es ist, Trost zu spenden. Auch ihm macht man die Worte streitig. Jetzt hilft nur die Liebe und Beten, schienen seine Augen zu sagen, unaufgeregt, in sich ruhend.
Ich dachte an den buddhistischen Mönch auf der Busfahrt von Nha Trang (Vietnam) nach Qui Nhon. Sein Blick hatte mich durchdrungen. Jetzt hilft nur noch die Liebe und meditieren, schienen seine Augen zu sagen.
Mich in dieser Stimmung wieder zu finden, die Michel Houellebecq 2005 in „La possiblilité d’une île“ beschrieben hat, erfüllt mich mit grosser Sorge. In diesem Roman haben die Protagonisten nichts weiter zu tun, als an ihrem Lebensprotokoll zu arbeiten. Abgelöst werden sie von ihren Klonen, niemand stirbt wirklich, auch der Hund wird immer wieder geboren. Diese Menschen haben kaum noch Emotionen. Der Ich-Erzähler trifft eines Tages im Cyberspace auf eine weibliche Stimme, die in ihm das nie gekannte Gefühl der Sehnsucht weckt. Er macht sich auf den Weg, draussen in der Welt diese Frau zu finden. Aber draussen ist niemand, kein Mensch, nirgends.
Ich bin dem Autor auf den Leim gegangen. Ich hielt lange seine Propaganda des Sextourismus in Asien für eine scharfe Analyse des Zeitgeistes – bis ich das Elend in Saigon gesehen habe, die Mädchen in engen Röcken, wie sie mit dicken Weissen in Hotels verschwanden. Die Männer, die ich dazu befragte,gestanden ganz unbefangen, vom Angebot Gebrauch zu machen. Sextourismus ist salonfähig. Sextourismus ist Entwicklungshilfe. Autoren wie Houellbecq machen es möglich. Eiskalt deklamiert er in „Platforme“ (2001): Die einen haben die Körper, die anderen das Geld.
Am Schweizerischen Literaturinstitut haben wir uns oft über die Verantwortung beim Schreiben unterhalten. An Prüfungen wurde unser Innerstes abgeklopft. Wir sollten unsere eigene Stimme finden. Wir unterhielten uns über unsere eigene Sprache. Wir lernten, die Kritik nicht persönlich zu nehmen. Wir lernten kritikfähig zu werden. Dabei haben wir uns niemals über die Verlags- und Medienlandschaft unterhalten. Wie wir unsere Verantwortung beim Schreiben wahrnehmen, ohne uns zu verkaufen. Was wir tun können, wenn uns keiner will. Wenn wir nicht in den Mainstream passen. Nach drei Jahren waren wir alle so angepasst, dass wir auch für den anderen keine Partei mehr ergriffen, wenn aus einer Kritik ein Übergriff wurde.
Die Mechanismen der Kritik, Angriffe auf die Menschenwürde zu loben, sind sehr wirksam, wie ich in vorangehendem Beitrag skizziert habe. Dem können wir nur eine Literatur und Kunst entgegen setzen, die von Herzen kommt. Postmoderne Konzepte haben die Vernunft verraten, wie bereits Max Frisch anlässlich seines 75 jährigen Geburtstages 1986 an den Solothurner Literaturen festhält. http://www.youtube.com/watch?v=WsHdgRsfGdE
Es gibt nichts Vernünftigeres als die Liebe. Sie erzeugt Leben. Sie sorgt für Stabilität, und natürlich leiden wir unter grossem Schmerz, wenn wir sie verlieren. Filme wie Nymphomaniac von Lars von Trier arbeiten dagegen an, indem sie die Sexualität von der Liebe entkoppeln. Täglich rufen uns die Medien und die Popkultur zu ungezügeltem Konsum auf. Liebe aber kann man nicht konsumieren.
Michel Houellebecq kann mich nicht davon abhalten, an die nächste Gemeindeversammlung zu gehen. Wir erobern uns das Gebiet zurück. So freundlich war er ja, dem naiven Leser in „La carte und le territoire“ diesen Hinweis zu geben, dass Gebiete nur noch eine geostrategische Bedeutung haben, da ihre Bewohner längst in einer Parallelwelt leben.
Die Zeit feiert den Berlinale-Film „Die Entführung des Michel Houellebecqs“. Darin sagt er: „Ich glaube, Brüssel ist ein guter Ort für einen Bürgerkrieg.“ Aus dem Schreckensszenario eine Komödie zu machen, ist entweder Propaganda und auf jeden Fall ein Angriff auf die Menschenwürde, denn Humor dient nicht zum Töten! Man schicke den ach so genialen Visionär, den Iris Radisch als den grossen Autor der Epoche feiert, der sich aber trotz seiner scheinbaren Hellsichtigkeit einen Deut um die Welt kümmert, zum Teufel. Menschenhasser sind nicht cool. Die Literaturkritik bringt seine äussere Erscheinung gerne mit der Schildkröte in Verbindung. Die Schildkröte steht in der asiatischen Kultur für Weisheit und ein langes Leben. In Vietnam werden die Grabsteine der Doktoren von Schildkröten getragen. Houellebecq sieht nicht aus wie eine Schildkröte. Ich weiss nicht, wie er aussieht, vielleicht wie Nestlé. Es ist auch völlig egal, wie ein Autor aussieht. Ich will jetzt endlich meine Sprache zurück! Die Liebe. Das Leben. Ein Leben ohne kläffende Hofhunde.