Zum 175jährigen Geburtstag und Neuanfang (im Traum schrie ich: Ich will nicht sterben!) des Gymnasiums Thun Seefeld

Eine gute Bildung ist ein gutes Fundament, nur kosten soll sie nichts, schliesslich ist nicht restlos geklärt, was eine gute Bildung denn wirklich bringt. Was soll denn bitteschön ein Fundament sein? (Heute wo wir wieder über Atombomben sprechen, machen Fundamente nun wirklich keinen Sinn.) Das Schöngeistige, ja das, das Geisteswissenschaftliche, ach ja das, das Musische, nun, das bringt ja nun wirklich kein Geld ein.

Ich bin der beste Beweis dafür. Ein Exemplar des dritten Jahrgangs des nur fünfzehnjährigen Experimentes Gymnasium Thun Seefeld. Was ist aus mir geworden? Ich schreibe. Ich bin 31 und befinde mich mit meinem schreiberischen Unterfangen noch ziemlich am Anfang, nach zwei Jahren nach Abschluss eines äusserst dubiosen zweiten Studiums, nämlich literarisches Schreiben. So sieht also die Verschwendung von Steuergeldern auf zwei Beinen aus. Generation Maybe werden wir genannt, die planlosen Dreissigjährigen, die Unentschlossenheit mit Flexibilität verwechseln. Die Begriffe spielen ja auch keine Rolle, solange der Zauderer oder die Zaudernden, um geschlechtsneutral zu sprechen, sich jugendlich fühlen, denn nur Jugendliche sind gute Konsumenten: Sie wollen alles haben! (Und möglichst nichts dafür tun.) Reife findet in Marktgesetzen keine Anwendung. Reife blockiert das Wachstum! (Daher dürfen Kinder in den USA gar nicht erst mit Früchten und Gemüse in Berührung kommen.)

Die Wurzeln meines verschwenderischen Geistes liegen hier in dieser Bildungsinstitution. Hier habe ich etwas erfahren, was ich später nicht mehr so leicht wiederfinden sollte. Wohlwollen. „Das Gute zu wollen“, steckt bereits im Wort. Für Immanuel Kant ist Wohlwollen die einzige Primärtugend: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. (Heutige PPP-Lehrpersonen würden ihm für diesen Satz nicht gerade mangelnden Willen unterstellen, aber zumindest ein V für mangelnde Verständlichkeit am Seitenrand anbringen.)

Formen des Wohlwollens sind Solidarität, Mitleid, Dankbarkeit und Sympathie. Verständlich, dass keine Firma dieser Welt Wohlwollenspraktikumsplätze ausschreibt. Konkurrenz, und nur die belebt die Wirtschaft, beinhaltet genau das Gegenteil.

Ich erinnere mich an die vielen Projekte, die wir selbständig realisieren durften, damals als „Projekt“ noch kein Unwort und Scheitern noch fremd war, als im ästhetischen Experiment noch kein Dünkel mitschwang, als die Dinge noch keine festgeschriebene Bedeutung hatten, sondern die Bedeutung, die wir ihnen gaben. Der Umgang mit Mobiltelefonen war noch sehr rudimentär, Internet sekundär, was Google sein sollte, begriff ich lange nicht. Eine Suchmaschine, die ihrerseits Daten sammelt, um diese Daten auszuwerten, um die Suche weiter zu perfektionieren, dem Nutzer auf dieser Suche Angebote zu machen, und mit den Angeboten natürlich Geld. Die NSA findet ihre Leute bei Google. Und Sache der Geheimdienste ist es nicht, Kriege zu verhindern, sondern anzuzetteln, um neue Märkte zu erschliessen.

Seit dem Erlangen meiner Maturität und heute ist also alles irgendwie ziemlich diffus geworden. Wie ein Schneckenhaus tragen wir unsere Online-Identität mit uns herum, um uns in ihr zu verkriechen. Wenn meine Stiefel auf dem Boden aufschlagen, Boden, der in Zonen eingeteilt ist, etwa in Raucherzonen, in Parkzonen, in Fussgängerzonen, die in Privatbesitz sind, wo unliebsame Personen weggewiesen werden dürfen, da hallt es in meinem Kopf wieder: Welches Fundament? Suche ich das Fundament in geistigen Gefilden, in Form eines kollektiven Gedächtnisses vielleicht, treffe ich auf die Planierraupe, Russisch und Altgriechisch sind Geschichte, dem Latein soll es ähnlich ergehen, den christlichen Glauben können wir auch bald beerdigen, schliesslich studiert niemand mehr Theologie.

Mit dem Seefeld verbinde ich einen Ort der Imagination. Und wenn Bildung eines kann, dann ist es das Schleifen dieses Juwels – der Einbildungskraft. Die Imagination ist die einzige Kraft, die uns weiter bringt, wenn die Welt um uns herum oder in uns drin eng wird.

Von daher wünsche ich der neuen Bildungsinstitution nicht besser als ihre Vorgänger zu werden, da sich Tugenden wie Wohlwollen und Fähigkeiten wie Phantasie nicht messen lassen.

Sollte bei dieser Fusion aber tatsächlich ein neuer Zellkern entstehen, dann möchte ich ihn Imagination nennen. Um es mit André Breton auszudrücken, der Gegenstand meiner Maturalektüre war:

Es ist wahrlich nicht die Angst vor dem Wahnsinn, die uns zwingen könnte, die Fahne der Imagination auf Halbmast zu setzen.