Karussell

Eine Araberin mit dicken Beinen sitzt auf einem Holzpferd. Der junge Kiffer trägt eine Visage wie aus einem Horrorfilm. Es wundert mich, dass sich niemand an seinem Anblick wundert. Der junge Vater, der auf vier Mädchen aufpasst, so wie er den Namen Elody und Christelle ausspricht, lässt darauf schliessen, dass diese nicht seine eigenen sind, setzt ein Lächeln auf, als ob er Darsteller einer Soap wäre. Dem einen Mädchen befiehlt er vom Karussell herunter zu kommen. Seine Sätze klingen wie wohlproportionierte Gurkenscheiben. In meinem Portemonnaie krame ich nach Kleingeld. Zu wenig für einen Kaffee. Ich entdecke zwanzig Bani, und frage mich, ob es politisch korrekt ist, Romas rumänisches Geld zu geben. Drei Mafiosi, so sehen sie jedenfalls aus, stehen am Geländer der Schwanenfarm. Im Hintergrund bewacht ein Entenmann den Schlaf seiner Entendame. Das Dastehen der Männer aus der Schattenwelt stört das Bild des tierischen Ehelebens. Der Ekel, habe ich herausgefunden, beruhigt mich. Als Neuveganerin leide ich gerade unter so heftigen Schwindelanfällen, dass mir soeben der Gedanke kam, eine Veganerselbsthilfegruppe zu gründen. Dass mich der Ekel erdet, habe ich beim Gynäkologen herausgefunden. Er begrüsste mich mit den Worten: „Willkommen in unserer Soap“, da ich Zeugin wurde, wie er im Flur mit einer jungen Patientin über eine Holztruhe sprach, während ich im Wartezimmer ungeduldig die Beine übereinanderschlug, das linke über das rechte und das rechte über das linke, da ich mit dem Beobachter schon durch war. Ich sagte: „Stimmt, eine Gynäkologensoap gibt es noch nicht“, woraufhin er mir dann die Geschichte vom Berner Gynäkologen erzählte, der seine Schwiegermutter in Stücke gesägt hatte, nachdem seine Frau mit zwei Hunden im Ferienhaus verbrannt, und ein Kollege Oberarzt spurlos verschwunden war. Darüber hat jemand ein Buch geschrieben. Er überreichte mir das Rezept: Der Antihippokrat. Mein Gynäkologe erzählte, dass er zwei Wochen vor der Festnahme noch bei besagtem Kollegen zum Essen eingeladen gewesen war. Gefressen hätte er, der Mörder, drei Güggeli und dazu einen Kasten Bier gesoffen. Ich überlegte mir, ob ich in meinem Bekanntenkreis ebenfalls solch abgründige Charaktere ausmachen konnte. Dank Videokameras gelang es, den Psychopathen zu überführen – wie er Plastikbeutel wegschleppte; Hände, Füsse, Brustkorb. Ein Hüftgelenk und der Kopf würden immer noch fehlen. Im Amtshaus hätte er sich schliesslich die Pulsadern aufgebissen, woraufhin man ihn nach Belp gebracht hätte, wo er sich in der darauffolgenden Nacht erhängt hatte. Nun, endlich beginne ich Aristoteles‘ Begriff der Katharsis zu verstehen. Reinigung durch Schaudern und Schrecken. Ein furchteinflössender, abstossender Vorgang auf der Bühne, in der Literatur oder wie eben beschrieben in einem Gespräch vermittelt, dient als Projektionsfläche für eigene heftige Gefühle, die so auf eine angenehme, ja fast unterhaltsame Art „abfliessen“ können. Die letzten Tage konnte ich gar nichts kanalisieren, auch der Abfluss in meiner Küche war verstopft. Ging ich spazieren, ging ich neben meinen Beinen her, wobei der Wind meinen Oberkörper stets auf die rechte Seite gebogen hatte und rechtwinklig auf meinen Hüften zu sitzen schien. Der sich ankündigende Frühling kommt mir übertrieben vor. Wegen mir alleine brauchst du dir nicht so viel Mühe zu machen, möchte ich ihm zurufen. In der Stadt stehen viele Wohnungen plötzlich leer. Balkone und Terrassen wirken frisch verlassen, als ob vor ein paar Tagen erst der dazugehörige Mensch das Zeitliche gesegnet hätte. Die Ruhe der Endgültigkeit liegt über diesen Grundstücken, als ob die Natur eigens für diese Atmosphären eine Regieanweisung bekommen hätte. Hier bitte nicht zu laut zwitschern. Und nun Auftritt Gekko, quer über die Brüstung des Balkons. In Kriegsgebieten, denke ich, ist die Trauer bereits in die DNA übergegangen. Warum komme ich darauf, hier oben bei der Opferstätte? Neben fröhlichen Teenagern, die wie junge Göttinnen im Kreis im Pavillon sitzen (die Trainerhosen muss man sich wegdenken.) Ich beobachte, dass sich der Schmerz mit den wechselnden Lichtverhältnissen verlagert. Wenn abends um sechs ein zarter Lichtkegel ins Wohnzimmer fallen wird, werde ich mich fragen müssen, ob ich mich genau in diesen Lichtkegel setze oder ob ich nochmals hinausgehe.