Übungen in der Talsohle

Ich schmecke mir selbst nach dünnem Kaffee, im Schützengraben meiner Gefühle. Es regnet nicht richtig, aber richtig genug, um es sich zwei Mal zu überlegen, nach draussen zu gehen. Dabei kann einem an einem solchen hundselenden Tag, um die Tatsachen gleich beim Namen zu nennen, eigentlich nur das Draussen retten – durch den Halbregen gehend einen Hund betrachten, der zum Fenster hinausschaut, bis man halb irr wird von der Vorstellung, dass fortan Hunde und nicht Menschen in den schönen Altbauwohnungen leben. Zärtlich wischen sie mit ihrer Zunge über die eleganten Stuckaturen und gehen einzig zum Scheissen nach draussen.

Es gibt keine Tage mehr, nur noch Atemeinheiten. Die Zaubershow ist ausverkauft, und ich frage mich, was das bedeutet, keinen Zugang zur Magie zu bekommen. Man muss ja nicht immer alles so dramatisch auf sich selber beziehen. Man könnte sich ja auch auslagern, damit man all die seltsamen Fadheiten auf jemanden anderes projizieren könnte. Diesen anderen würde man nur mit „DU“ anreden. „DU DA!“, oder: „Na hör mal DUDA!“ Man könnte tatsächlich irr werden, und das für eine rationale Entscheidung halten, eine ganz und gar vernünftige Entscheidung, sich fortan zwecks Urteilsunfähigkeit nicht mehr entscheiden zu müssen.

Woher mein Beleidigtsein mir selbst gegenüber rührt, ich weiss es nicht. Es muss daher kommen, dass die Melancholie in Kindertagen unzugänglich war, (ich hatte mich im Schulfach Lachen geradezu verausgabt!) und so überkommt es mich halt jetzt. Ich überschwemme mich selbst von innen her. Bäche durchbrechen mich, in mir schwimmen Baumstämme, Stühle und lauter wunderlicher Objekte, die plötzlich ihren Besitzer verloren und somit ihre Bedeutung eingebüsst haben. Wie beispielsweise: Ein Holzpferd, ironischerweise eine Giesskanne, ein beschrifteter Fressnapf (BELLO). Diese Gegenstände also piesacken mich, weil sich dahinter Geschichten verbergen, und hinter den Geschichten die Vergeblichkeit. Erst wenn ich mir sehr fest Mühe gebe, kann ich in dieser Trostlosigkeit die Endlichkeit der Materie erkennen. Der Ausdruck beschwört die Unendlichkeit des Geistes herauf, wodurch sich die Trostlosigkeit in Trost verwandelt.

Immer wenn ich als Kind heimlich von der Melancholie genascht hatte, schlich ich mich auf den Dachboden, um ein Referat zu halten, über Globi und das Universum. Ein gutes Referat ist wurmstichig oder es hat den Gehalt einer Werbung für Geschirrspüler-Tabs.

Meine Grossmutter hatte die Angewohnheit dünnen Kaffee zu servieren, einzig um auszurufen: „Der Kaffee ist jetzt aber dünn!“ Diese kleinen künstlich erzeugten Entbehrungen, zweifelsohne ein Überbleibsel der Lebensmittelrationierungen im zweiten Weltkrieg, vermögen einen starken Eindruck auf Kinderseelen auszuüben. Das Kind bekommt den Eindruck eines Mangels mit dem ersten Cappuccino eingeflösst. Kaffee durften wir als Kinder ja nicht trinken, aber Cappuccino bei Grossmutter! Cappuccino aus dünnem Kaffee! Dann nahm mich Grossmutter mit in die Kirche, wo sie Bach aus der Orgel rausholte. Bach, die Kirchenlieder, der Sandsteingeruch, Christophorus an der Nordwand und meine Grossmutter waren ein Bild. Noch heute singe ich Kirchenlieder, die mir nicht bekannt sind. Die Lieder singen aus mir heraus, wenn ich alleine und in aufgeräumter Stimmung bin. Womöglich ist das der einzige Grund, weswegen Frauen Kinder gebären. Um diese heiligen Geheimnisse weiter zu tragen. Nur diese Formen der Intimität sind arterhaltend. „Intimität“ heisst im Lateinischen, „dem Rand am fernsten“, „am weitesten Innen“, und beschrieb ursprünglich den Zustand tiefsten Vertrauens. Unsere Gesellschaft macht daraus einen Dessousladen, „Intimissimi“, wodurch der Ausdruck nur noch sexuell konnotiert ist, und seine spirituelle Dimension einbüsst.

Es kommt vor, dass ich atme, ohne davon Kenntnis zu nehmen.

Es kommt vor, dass ich atme, ohne davon Kenntnis zu nehmen.