Geistig auf dem Trockenen, und in Versuchung, ein Wochenende in Colmar zu verbringen (das Elsass liegt nahe, ich war noch nie im Elsass, mein Budget ist klein, und meine Imagination möchte an ein gedecktes Tischchen geführt werden), rettete mich Herr Bärfuss vor einer herausgepützelten, reformierten, assortierten Beschaulichkeit (die man auch gerne auf Confiserie-Stückchen präsentiert), die bei einem guten Wein ihrer bewegten Vergangenheit gedenkt. Sicherlich lohnt sich das Studium der Historie. Nach dem ersten Weltkrieg fällt das Elsass nach einer deutsch-kaiserlichen Episode, die auf eine französische folgte, wo doch die Geburtsstunde römisch-deutsch war, wenn denn die Zeit irgend eine Identität annehmen kann, wieder Frankreich zu. Am 22. August 1926, dem blutigen Sonntag von Colmar, stehen sich französische Nationalisten und elsässische Autonomisten gegenüber. Die Antwort der Sicherheitskräfte fällt zu Gunsten der französischen Angreifer aus. Ein autonomes Elsass ist nicht erwünscht.
Am Wochenende soll es über dreissig Grad werden. Es ist durchaus denkbar, bei dreissig Grad im Schatten die Geschichte einer schmucken Stadt zu studieren, während ein anderer Flecken in Europa in Brand steht, einmal mehr das Spiel des kalten Krieges gespielt wird, an vorderster Front die Medien, während anderorts die Menschen in der Wiege Europas gerade Mal noch 60 Euro, nach aktuellstem Stand nur noch 30 Euro Notgeld von der Bank abheben können. Es ist nicht der Fakt der Ungerechtigkeit an sich, die uns, die es uns noch gut geht, den Genuss verdirbt. Es ist die Leugnung des Ernstes der Lage, die einem eine Stadt wie Colmar unerträglich macht. Bärfuss hat mich an dieses Misstrauen gegenüber zu schönen Dingen erinnert. Nennen wir dieses Misstrauen das Thun-Trauma. Gut, Colmar hat keine Rüstungsindustrie, aber eine zwölf Meter hohe Kopie der Freiheitsstatue. Aber wie kommt es zu diesem Trauma? Der Kritiker weist in einem beschaulichen Ambiente auf einen Missstand hin, wie eben beispielsweise auf die Waffenproduktion eingebettet ins schönste Alpenpanorama, worauf ihm entgegnet wird, er möge sich doch bitte nicht so aufspielen. Ihm wird vorgeworfen, er würde seine Leserschaft beleidigen etc… . Daher fällt es jemandem, der am Thun-Trauma leidet, schwer, schöne Dinge zur Kenntnis zu nehmen, da sich das Erhabene fortan mit Misstrauen mischt. Daraus lässt sich schliessen, dass politisches Denken nicht durch die politischen Umständen hervorgerufen wird, sondern durch die Ignoranz der Mitmenschen den politischen Umständen gegenüber.
In „Stil und Moral“ widmet sich Bärfuss unter anderem der Essenz eines Textes. Er ist der Überzeugung, dass es nicht möglich ist, zusammenfassend eine Aussage über einen Text zu machen, ohne den Text als Ganzes zu beschneiden. Das ist sicher richtig, ich kann nur bestimmen, was ein Text in meiner Vorstellungswelt verändert. Ich trete mit ihm in einen Dialog, wodurch der Text seinen Aggregatszustand ändert. Etwas Seltsames passierte mir gestern beim Lesen. Es drängte sich mir unweigerlich Lukas Bärfuss als römische Büste vor mein geistiges Auge. Mir scheint, dass in seinen Essays der Meissel hörbar ist. Zwischen den Zeilen tropft der Schweiss, fliegt der Staub. Dieses Denken ist kein bequemes Denken, es sucht, unnachgiebig, zu einer gewissen Form hinstrebend, darum wissend, dass die Form brüchig, das Gewissen aber ewig ist. Gerade weil er die Ästhetik zugunsten der Moral opfern würde, legt er alles in sie, einzig um Wahrhaftigkeit bemüht. Daraus ergibt sich, dass eine Ästhetik, die nicht wahrhaftig ist, nicht schön sein kann. Darauf bringt ihn eine junge Skifahrerin, die ihn mit ihrer 70er Jahre Skiausrüstung in ihren Bann zieht. Sogar ihre Skier sind aus der Zeit gefallen, aber dennoch wirkt die junge Dame wie aus dem Ei gepellt. Der Autor verspürt den Drang, sich dieser stilvollen Trendverweigererin zu nähern. Der Zufall will es, dass er mit ihr und ihrer Begleiterin in einem Vierersessel Platz nehmen darf. Die Begleiterin erweist sich als Betreuerin, dieser erzählt die erhabene junge Frau aus ihrer traurigen Kindheit, und weswegen ihre Ausrüstung nicht die neuste sei. Der Grund ist nichts als pure Armut, worauf Bärfuss‘ Faszination dem Mitleid weicht.
Ästhetik ist ein Luxus, die aber ausserhalb der wirtschaftlichen Sphäre liegt. Wir müssen frei sein, wenn wir die Schönheit erkennen wollen.