Wenn die Tage aus den Nähten platzen

Ich träume von wilden Verfolgungsjagden mit Knarre, (ich trage sie unter dem Hosenbund links, wenn ich beide Hände zum Klettern brauche.) Ich wechsle in einen anderen Körper, einen mir vertrauten, der mir fehlt wie eine amputierte Gliedmasse. Ich renne durch Gemüsebeete über viel zu grosses Gemüse, man bräuchte eine Motorsäge, um diesen Fenchel in küchentaugliche Stücke zu teilen.

Ich meide Filme, die meine Nerven überspannen könnten. Obwohl ich im Kino arbeite, schaue ich mir überhaupt keine Action-Movies an, nicht mal wenn Sean Penn und Javier Bardem zusammen auf der Leinwand zu sehen sind. Wahrscheinlich genügt diese halbe Minute, wenn ich vor der Pause in den Saal gehe, um zeitpassend die Türen zu öffnen, damit ich die Pause möglichst kurz halten kann. Eine Sekunde Terminator und ich fühle mich, als ob mir jemand unaufgefordert seinen Penis gezeigt hätte. Unangenehm berührt.

Der Sommer allgemein hinterlässt bei mir das Gefühl, fehl am Platz zu sein, zur falschen Zeit am falschen Ort, nicht wissend, dass es sich bei diesem Irrtum nicht um die eigene Charakterschwäche, sondern bloss um einen Zufall handelt. In einem überfüllten Bad zum Beispiel. Am Beckenrand tummeln sich Körper wie gestrandete Walfische. Pubertierende ächzen und kreischen zwischen Arschbomben, während sie einander unter Wasser drücken, „täucheln“ (tauchen lassen) auf Schweizerdeutsch.

Der See ist viel zu warm, als ob die ganze Stadt reingepinkelt hätte.

Ich suche nach den Goldfischen. Ich suche nach dem Bademeister, der meiner Schwester damals den giftigen Bienenstachel aus der Oberlippe gezogen hat, während ich zum ersten Mal dieses bedrohliche Gefühl wahrnahm, dass bei dreissig Grad im Schatten das Glück kippt.

Ein anderer Albtraum: Ich komme nach Hause, und in meiner Küche steht Thomas Gottschalk.

Ich lese Honoré de Balzac und fühle eine seltsame Lähmung. Er spricht aus der Vergangenheit, aber was ich zwischen den Buchdeckeln entdecke, strahlt mich aus der Zukunft an, zum einen, weil ich den Roman noch nicht kenne, ich erwecke ihn in diesem Moment in meinem Kopf zum Leben, ein absolut einmaliger Prozess, da es meinen Kopf nur einmal gibt, soweit ich weiss. Kein anderer Leser wird sich dieselben Gedanken machen. Zum anderen beschreibt Balzac eine soziale Wirklichkeit, die sich innerhalb der letzten hundertfünfzig Jahren nicht gross verändert hat. Die Mechanismen der Macht, der Politik, des Geldes, der Liebe und Erotik sind dieseleben. Was heute das Metier der Verschwörungstheoretiker und Neurechten sein soll (Was Neurechte sein sollen, ist wiederum nicht Gegenstand der Medien…), sieht Balzac bereits in der Struktur des Journalismus verankert. „Wer einmal im Journalismus untergetaucht war oder es noch ist, der ist vor die grausame Notwendigkeit gestellt, Männer, die er verachtet zu grüssen, seinem ärgsten Feinde zuzulächeln, mit den stinkendsten Niedrigkeiten zu paktieren und sich die Finger zu beschmutzen, indem er seine Angreifer mit ihren Waffen bekämpft. Man gewöhnt sich in dieser Art von Leben bald daran, mit anzusehen, wie Böses getan wird, man beginnt es gutzuheissen – und kommt endlich soweit, es selber zu verüben. Mit der Zeit wird dann die Seele, die ohne Unterlass von der unaufhörlichen schamlosen Geschäftigkeit besudelte, immer armseliger, die Triebfedern der edlen Gedanken verrosten und die Banalität bewegt sich schliesslich von selber in den abgewetzten Scharnieren.“ Heute würde man Balzac Paranoia unterstellen. Schwärmerei. Man müsse halt Kompromisse eingehen im Leben.

War nicht Fassbinder ihm ähnlich? Fassbinder sagt, ein Werk, das nichts über seine Zeit, in der es entstand, aussagt, ist wertlos. Und ist nicht Bärfuss Fassbinder ähnlich? Man müsste die Kulturgeschichte neu schreiben, assoziativ, wer durch die Jahrhunderte weht wie Virginia Woolfs Orlando, und wer mit der Masse geht, die, die niemals versteht, taub, blind, einzig genusssüchtig. Selbstgewählte Analphabeten.

Ein strukturelles Problem. Die Masse ist träge. Demokratie könnte nur auf kleinstem Raum funktionieren. Mit mehr als hundert Menschen wird es schwierig. Jeder muss Verantwortung tragen können. Sonst wird „Verantwortung“ zur Worthülse. Überhaupt, wenn wir gerade dabei sind, verballern wir unsere Artikulationsfähigkeit. Damit wird die Poesie unmöglich. Daher sind die Menschen besessen von ihren kleinen Botschaften, die sie einander zukommen lassen. (Hallo, wie geht es dir?) (Früher „Ficken“ in den Umkleidekabinen der Freibänder. Oder: „Tom I love you.“ Manchmal auch einfach: „Wer das liest ist blöd.“) Weil ihnen kein Produkt im Regal zuruft: „Du hast eine schöne Nase“ oder „Dein Haar riecht nach Vermicelles.“

Oder

Es war sehr schön, du zu sein. Auch wenn es nur ein Traum war.