Die vollkommene Idiotie ist da erreicht, wo der Idiot sich selbst nicht als Idiot erkennt.

Olivia Jeune gründete 2014 in Biel das Institut für Wahrheitsfindungsprozesse. Die Anthroposophin arbeitet mit ihrem fünfköpfigen Team aus Forschung, Literatur, Kunst und Arbeiterklasse an Prozessen des alternativen Netzwerkklöppelns.

Frau Jeune, warum haben heute viele Leute Angst, das Falsche zu denken?

Die Angst vor falschen Gedanken ist charakteristisch für totalitäre Systeme, ob religiöser oder politischer Art. Man kann auf zweierlei Weise falsche Gedanken produzieren; erstere ist rein intuitiv; der Gedanke ist nicht kompatibel mit dem Status Quo, wodurch eine Dissonanz zwischen der Gesellschaft und uns als Individuum entsteht. Die zweite Art des falschen Gedankens geht auf eine logisch falsche Schlussfolgerung zurück, ist also ein Versagen unserer intellektuellen Fähigkeiten. Auch davor fürchtet sich das Individuum in einem totalitären System. Als Idiot da zu stehen, ist fast noch peinigender, als reinen Herzens etwas Unkorrektes zu sagen, wobei in diesem Fall der Querschläger ebenfalls als Idiot dargestellt wird. Zu beobachten ist ebenfalls, dass die herrschende Klasse meist ihre Doktrin nicht widerspruchsfrei zu Ende denken kann, wodurch die Sprache durch leere Floskeln, Verkehrung ins Gegenteil, etc., ihrer Kraft beraubt wird. Die Sprache dient nur noch der einen Sache. Wer sich nicht innerhalb des totalitären Kosmos‘ bewegt, verstösst wiederum gegen die Regeln der Sprache und ist daher ein Idiot.

Also sind wir alles Idioten, ohne es zu merken?

So ist es. Die vollkommene Idiotie ist da erreicht, wo der Idiot sich selbst nicht als Idiot erkennt. Ein wichtiger Bestandteil der Ideologie ist seine Negation. Der Neoliberalismus tut so, als wäre er ein Naturgesetz.

Was können wir dagegen tun?

Die Antwort steckt bereits in der Frage. Wir können etwas tun. Etwas zu tun, ist oft fruchtbarer, als etwas bloss zu denken…

Wie erkennen wir denn unter den vielen Möglichkeiten die richtige?

Schon wieder tappen wir in die Falle von „richtig“ und „falsch“. Schwarzweiss-Denken hält uns aber von jeglichen Handlungen ab, weil jede Handlung auch etwas Unangenehmes beinhaltet, einen Entscheid fällen zu müssen, auf etwas anderes zu verzichten und schliesslich Kraft zu investieren. Da sich die Jugend durch längere Ausbildungen immer weiter nach hinten streckt, Paare nicht mehr jung heiraten und erst spät Kinder haben, kommen wir immer später in die Verantwortung. Mitte Dreissig stecken viele noch in der Selbstfindungsphase, anstatt ihre Energie in die Zukunft der Gesellschaft zu investieren. Kaum sind Kinder da, werden Ehen bereits wieder geschieden. Diese individualisierten Lebensentwürfe schwächen die politische und auch spirituelle Teilhabe. Der einzelne wird manipulierbar.

Also ist es eigentlich egal, für was wir uns entscheiden, Hauptsache wir entscheiden uns?

Überspitzt gesagt ja. Erst wenn wir etwas ausführen und zu Ende denken, lernen wir etwas daraus. Nur zweimal den gleichen Fehler machen, sollten wir nicht.

Haben Sie schon mal zweimal den gleichen Fehler gemacht?

Natürlich, früher ständig. Das ging so weit, dass ich mich für eine grosse charakterschwache Ausnahme hielt, bis ich entdeckte, dass andere genau das gleiche Problem hatten. Die Menschen fürchten sich vor nichts so sehr wie vor der Veränderung, egal wie schlimm der momentane Zustand ist. Das Unbekannte erscheint uns stets als bedrohlich. Wir können uns aber beinahe unbegrenzt viele neue Verhaltensweisen antrainieren. Das dauert zwar und ist am Anfang mühsam, unser Potential aber erschöpft sich nicht. Diesen Sachverhalt nennt man die Plastizität des Gehirns.

Frau Jeune, wie sieht Ihr Gehirn aus?

Wie ein Keramikladen mit sehr unterschiedlichen Gefässen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch Frau Jeune!