Eisblumen

Ich häng mir Freddy Nock über den Schreibtisch; in der Berninagruppe auf einem Seil auf 3’500 Metern Höhe.Wenn ich künftig eine Blockade habe, will ich Freddy betrachten, der nicht nur der Höhe, sondern auch Wind und Kälte trotzt.

Ich lege mir weitere Gedanken zurecht, die ich in meine Notfallapotheke packe, denn wir stürzen täglich mehrmals ab.

Wenn du nicht hundert Prozent an dich glaubst und in deiner Mitte ruhst, beginnt das Seil zu schlackern.

Ich lege Fäderliecht von Stiller Has neben Pflaster und Desinfektionsmittel.

Mein Blick schweift über die gepuderten Gipfel, während sich die Nacht tiefblau ankündigt. Die Bergspitzen glühen, als ob jemand hinter ihnen eine Lampe angezündet hätte. Wenn ich das Fenster öffne, dringt klare Gletscherluft herein. Krähen suchen auf den Dächern nach Futter.

Ich könnte auch in Tiflis sein, und manchmal stehe ich wochenlang am Meer, und wenn mich jemand fragt, was ich hier mache, lege ich eine bedeutende Miene auf, als ob sich der andere doch erinnern müsste. Dabei weiss einzig der junge Gemüse- und Obsthändler, dass ich ganz viele Mangos esse, und mich auf eine unschuldige Art verliebe, sodass es mich täglich wie eine Samtfrau verweht. Das mache ich. Mich verwehen lassen.

Jetzt bin ich wieder sperrig, und steh mir selbst im Weg, als ob all die ungeliebten Versionen meiner selbst auf einmal auf mich einstürmten. Und anstatt mich anzuschauen und mich hinter dem Schreibtisch zu platzieren, schaue ich mir grosse Wohnungen an. Für jeden Quälgeist ein Zimmer und die Arvenstube mit dem Kachelofen und die Küche mit dem Holzherd für mich. Fehlt nur noch das Brezeleisen. Natürlich würde ich vegane Brezeli machen. Den Jägern würd’ ich nichts davon sagen, den Köchen auch nicht. Den Kindern wär‘s egal. Einzig die Grossmütter würden‘s merken, und sagen: „Kind!“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Die Butter!“, und sie schüttelten langsam den Kopf, während sie einen Schluck Kaffee trinken würden.

Auch Esmeralda will mir kein Glück bringen. Sie ist immer so ordentlich und pflichtbewusst, die personifizierte Tugend. Meine innere Klosterfrau. Denkt gleich wieder ans Putzen und an die Vorhänge, die wir noch nähen müssen, denkt an unsere Gäste, ob sie sich denn wohl fühlten in dieser Wohnung, denkt an das zu kaufende Bett und die Matratze, an die Bettwäsche, und dass die Wohnung gelüftet werden muss. Die Wohnung riecht nach Zweihundertjährigen. Nur eine Frau schleicht so seltsam in den Räumen rum, die Frau bin ich.

„Im Garten gibt’s genügend Platz für Hühner“, sagt sie. Aber die Raubvögel denke ich. Der Fuchs und der Wolf. Und das Butterproblem wär immer noch nicht gelöst.

Auf dem Rückweg am Inn bellt mich ein Pyrenäen-Berghund an. Er verfolgt mich im Schnee, eine Terrasse über mir. Der Abstand zwischen uns verringert sich, und erst als ich stehen bleibe und ihn anschreie, er solle nach Hause gehen, trottet er davon. Es ist ein Hirtenhund mit Hang zu Unabhängigkeit und Selbstinitiative, der vom Herrchen Autorität erfordert.

Du musst sagen, was du willst, kleine Esmeralda, sonst wirst du traurig und dein Gemüt dunkel wie das Val d‘Uina.

Es stimmt nicht, dass du nicht wütend sein darfst, manchmal musst du auch lauthals beschützen, was dir lieb ist. Und es ist auch nicht wahr, dass jeder Raum einen Sinn ergeben muss. In Manchen Räumen genügt es zu tanzen und Kopfstände zu machen.

Uns wird täglich gesagt, was wir tun und lassen sollten. Die Anweisungen erhalten wir über Mobiltelefone. Dabei ist unklar, wem wir eigentlich dienen. Es gibt Menschen, die darauf spezialisiert sind, zu überprüfen, ob sich die Masse korrekt verhält;

Noch bevor wir in einen Dialog treten, sollen wir unsere Gedanken fixfertig vorbereitet haben, wie Fertigpizzen und andere Tiefkühlprodukte. Und wenn wir nur mit den Gedanken spielen, sie über zwei Bergspitzen zu spannen, werden wir darauf festgenagelt; und dass wir nicht die Kraft und die Ruhe hätten, den Gedanken zu halten. Und wenn wir einen neuen Gedanken spinnen, versucht man uns in die alten zu verwickeln, bis wir uns verstricken und ja kein neuer Horizont erscheint.

Dabei haben wir alles, was wir brauchen. Die Kraft, die Ruhe, die Wut, die Liebe, es ist alles vorhanden in unserem Resonanzraum. Alles in einem Moment: Fäderliecht.

Am Aufsteigen kann man uns nur hindern, solange unsere Sicht verschwommen ist – und Freddy Nock geht auch blind übers Seil.

Ich warte auf die Eisblumen an meinem Fenster.