Meine Gedanken folgen keiner klaren Logik und erschlagen mich. Mein Kopf macht für die Petersburger Hängung à la Romana Ganzoni Platz; die Bilder hängen unsystematisch dicht aneinander an der Wand, vom Boden bis zur Decke und beeindrucken den Betrachter durch ihre schiere Menge. Das ist die Petersburger Hängung, die auf die Renaissance zurückgeht, als mehr der Kunstsammler, welcher über die nötigen finanziellen Mittel verfügte, denn das eigentliche Kunstwerk im Zentrum stand.
In meinem schlafwandlerischen Zustand des Abschiednehmens vom Engadin (voilà, so einfach ist es raus, keine Szenen, keine Tränen, einfach mit der Tür ins Haus fallen oder ohne anzuklopfen in die Stuva eintreten wie das die alten Engadiner noch zu tun pflegen) lese ich Romanas „Tod in Genua“. Die Protagonistin Nina wird von ihrem Ehemann zärtlich St. Petersburgerin genannt, ihrer assoziativen Erzählweise wegen.
Ich nasche von Romanas wunderbaren Sätzen, die sich im Hirn wie feinstes Konfekt entfalten, das im Roman auch eine Rolle spielt. Anderorts kommt mir das Opulenz versessene Zürcher Protagonistenpaar ungelegen.
Ich will ausmisten. Ich trage Bücher auf den Motta, um sie in den offenen Bücherschrank zu stellen. Manche trage ich wieder herunter. Rosa Luxemburg und Marquis de Sade. Angesichts der Neuen Weltordnung, die durch die Nationen einende Klimahysterie nun endlich in Griffnähe rückt, lohnte es sich etwas Marxismus zu studieren. Und de Sade kann man einfach nicht in einen offenen Bücherschrank stellen. In einem Familienski- und Wandergebiet. In „Tod in Genua“ heisst es: „De Sade interessierte Paul weiterhin, erst kürzlich hatte er einen Philosophen zitiert, de Sade sei nicht der erste Künstler der Moderne, sondern der letzte des Feudalismus, und er sei weiterhin aktuell, so könne die streng arbeitsteilig organisierte Sexualität als logische Fortsetzung rein ökonomistisch dominierten Tuns gelten.“ In diesem Sinne müssen wohl auch Jungpolitiker nicht zwingend mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen vertraut sein, wie kürzlich eine Umfrage aufzeigte.
Nun habe ich mich aber wirklich in der Eremitage verirrt, und ich will auch nicht den Anschein erwecken, dass „Tod in Genua“ ein Bett geflüstriges Buch sein könnte. Das ist eben grad das Problem. Das Protagonistenpaar verkehrt nicht mehr regelmässig miteinander. Im Zentrum der Erzählung steht Pauls Tante Matilde, eine nach Genau ausgewanderte Cousine seines verstorbenen Vaters, welche einst den Segen für Pauls Ehe mit Nina gab. Der Roman setzt mit dem Tag der Beerdigung Matildes ein. In der Erinnerung besticht Tante Matilde durch ihre kühle Eleganz, ihren Schmuck, ihre Parfums, und die Liebe zur Oper, die sie mit Nina, der Opernsängerin teilte. Und vor allem rauchte sie.
In Romana Ganzonis Requiem wird alles Schöne und Sündige nochmals besungen, und findet auf dem Monumentalfriedhof Staglieno wörtlich seinen letzten Höhepunkt.
„Tod in Genua“ ist aber auch eine Liebeserklärung an Genua, und eine herrliche Weigerung, sich dem ökonomistisch dominierten Tun unterzuordnen. So raucht Nina, endlich frei von der schmerzhaften Vergangenheit, an die sie durch ihre Ehe gebunden war, auf dem Friedhof ihre erste Zigarette.
Wegen ökonomistischen Sachzwängen muss ich hier enden. Ich denke aber weiter über diese schillernden Persönlichkeiten nach, die uns durch ihre Eleganz und ihre uneingeschränkte Liebe zur Ästhetik zu besseren Menschen machen, indem sie uns an die Kostbarkeit des Momentes erinnern. Jeder von uns kennt doch so eine Tante Matilde.
Was mein Ausmistungsunterfangen angeht, bin ich weiterhin konzeptlos.
Romana Ganzoni: „Tod in Venedig“. Zürich: Rotpunktverlag, 2019.