Lauretania war in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden. Die Zahl kam ihr seltsam vor, ein Witz! Sie fühlte sich immer noch wie ein junges Mädchen. Nur ihre Augen machten ihr Mühe, was sie ungern zugab. Sie verwendete einzig den Ausdruck, „Alterserscheinung“, um nicht das Wort „grüner Star“ aussprechen zu müssen. Das hätte sie daran erinnert, dass eine frühzeitige Kontrolle das Schlimmste hätte verhindern können. Durch den Druck im Auge wurden die Nerven und Fasern im Augenhintergrund geschädigt. Medikamente oder eine Laser-Behandlung hätten den Sehverlust minimieren können. „Was soll’s!“, murmelte sie jeweils vor sich hin, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sich vorgestellt hatte. So trug sie ihre Blusen und Röcke nie länger als einen Tag, um ganz sicher zu gehen, dass ihre Kleidung sauber und ordentlich war. Die Nachbarin bügelte für sie, im Gegenzug passte sie einmal in der Woche auf die Kinder auf, manchmal auch öfters, wenn bei der alleinerziehenden Mutter etwas dazwischen kam oder die Kinder einfach so Lust hatten, bei Lauri zu sein, wie sie sie nannten.
Lauretania hatte selber keine Kinder, und so genoss sie den jungen Wind, der durch ihre Wohnung zog. „Lauri wir lüften dein Gehirn aus!“, schrien die Kinder jeweils vergnügt, bevor sie sie mit Hausaufgaben, Geschichten oder gerade erfundenen Spielen bestürmten.
Lauretania vermisste wenig in ihrem Leben, und obwohl all ihre Freunde langsam wegstarben, ihr Mann war schon seit zwanzig Jahren tot, empfand sie eine tiefe innere Ruhe, die weit über das Glücklichsein hinausging. Nur eines fehlte ihr: Das Klavierspielen. Sie war Musiklehrerin gewesen, erst in der Unter- und Oberstufe, später am Gymnasium. Sie leitete im Laufe ihres Lebens verschiedene Chöre, und gab auch selber Konzerte in Kirchen und Rathäusern im Rahmen von Jubiläumsfeierlichkeiten und anderen Festakten. Mittlerweile konnte sie aber die Noten nicht mehr lesen, und was sie früher auswendig gespielt hatte, hatte sich in ihrem Gedächtnis aufgelöst.
Abends drehte sie ihre Runde durch das kleine Städtchen. Und seit geraumer Zeit lauschte sie jeweils dem Klavierspiel eines Studenten des Konservatoriums, der bei offenem Fenster übte, wenn sie um sieben Uhr abends am Löwenplatz vorbeikam. Sie setzte sich dann auf die gegenüberliegende Bank, um dem kleinen Konzert zu lauschen. Manchmal wiederholte der Student zwanzig Mal dieselbe Stelle, was ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte. Die Sonate Nr. 18 in D-Dur von Mozart, wie oft hatte sie dieses Stück gespielt! Wie viel man in einem Menschenleben lernen musste, um es am Ende wieder zu vergessen! Aber auch sie lernte noch. Und in diesen Tagen war es die Demut.
Es war Heiligabend, und sie genoss die Stille, die in die Gässchen der Altstadt eingekehrt war. Die Fenster waren hell erleuchtet, dahinter funkelten bunte Weihnachtsbäume, und sie stellte sich die unterschiedlichen Speisen vor, die verzehrt wurden, zu einem einzigen Speiseberg aufgetürmt, Gänseleber, Eisbein, Kartoffelgratin und Plattenweise Fleischscheiben fürs Fondue Chinoise. Sie stellte sich die Familien vor, wie sie zusammen sangen und Geschenke austauschten. Es machte ihr nichts aus, an keinem dieser Feste dabei zu sein, schliesslich hatte sie 79 Mal Weihnachten gefeiert, an die ersten Male erinnerte sie sich natürlich nicht mehr, an unzählige Feste später auch nicht genau, was übrig blieb, war einzig die Freude über Jesu Geburt, und die brauchte sie nicht mit einem Truthahn zu bezeugen. Im Alter brauchte man ohnehin immer weniger, während das Herz beständig weiter wurde.
Plötzlich brach das Klavierspiel ab, und im zweiten Stock des Konservatoriums öffnete sich ein Fenster, mutmasste sie, denn sonst hätte sie die Stimme, die offenbar nach ihr rief, nicht wahrgenommen. „Madame! Sie holen sich noch eine Erkältung da draussen! Kommen Sie hoch! Ich hab hier Plätzchen und Glühwein!“ Na nu, dachte Lauretania verwundert. So eine Einladung an Heiligabend konnte man wohl schlecht ausschlagen. Es war tatsächlich der Klavierspieler, der nach ihr gerufen hatte. Er erwartete sie an der ersten Türe, die sich linkerhand vom Treppenhaus im zweiten Stock befand.
„Sie haben mir zugehört, stimmt’s?“ Lauretania nickte „Und, was meinen Sie? Wird aus mir ein Pianist oder doch eher ein Holzfäller?“ Lauretania lachte. Sie konnte den Mann nur schemenhaft wahrnehmen. Er war kräftig, und trug einen dunklen Bart. Seine Stimme war ganz warm. „Sie sind bereits ein Meister“, lachte Lauretania. Sie erinnerte Nika, so stellte sich der Pianist vor, an seine Grossmutter, das lange graue Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Um ihre Augen bildeten sich lauter neckischer Lachfältchen. „Herr Nika, entschuldigen sie bitte, ich sehe nicht mehr gut, aber sie scheinen mir einen tadellosen Eindruck zu machen.“ Der junge Mann lachte: „Menschen der Musik sind selten Schelme. Ausser dass sie sich schlecht für harte Arbeit eignen, was die Menschen dazu veranlasst, zu glauben, wir würden nur musizieren, um uns Zeit zu erstehlen.“ „Wer ein Talent hat, muss es nutzen. Wir wollen Gott doch nicht langweilen! Einen grösseren Frevel kann man sich ja kaum ausdenken!“, lachte Lauretania.
Nika bot der Dame den einzigen freien Stuhl im kleinen Musikzimmer an. Links vom Fenster stand das Klavier. An der Wand gegenüber war ein Einbauschrank eingelassen. Vor dem Fenster stand ein kleines Tischchen mit Keksen und einer Thermoskanne drauf. Nika holte zwei Gläser aus dem Schrank. „Als Sohn eines georgischen Winzers find ich’s ja schon ein bisschen schändlich, den Wein so zu behandeln, aber ich mag diesen Glühwein trotzdem!“, lachte Nika. Die beiden prosteten sich zu, und endlich kam auch Lauretania dazu, sich vorzustellen.
„Was darf ich denn für Sie spielen, Frau Lauretania?“, fragte Nika. Und die Dame nestelte etwas verlegen in ihrer Tasche herum. Sie zog ein Notenheft heraus und sagte: „Seit ich sie zum ersten Mal spielen gehört habe, trage ich diese Noten in meiner Handtasche herum.“ Sie lächelte entschuldigend. „Im Alter entwickelt man so seine Spleens.“ Nika warf einen Blick auf die Noten. „Ich habe das Stück mit zwanzig geschrieben. Vor einiger Zeit ist mir das Heft beim Aufräumen wieder in die Hände geraten. Die Noten kann ich wegen meiner Sehschwäche nicht mehr lesen, und ich erinnere mich auch nicht mehr an die Details. Vielleicht können sie es für mich spielen?“, presste Lauretania hervor. Sie war nicht darin geübt, andere um einen Gefallen zu bitten. „Aber natürlich!“, lachte Nika. Er schlug andächtig die ersten Töne an.
Lauretania getraute sich kaum zu atmen. Die bezaubernde Einfachheit des Stückes rührte sie. Ein Stück wie aus dem Kirchengesangbuch, irgendwo der Ewigkeit entstiegen. „Frau Lauretania!“, strahlte Nika. „Sie haben mir da ein wunderbares Geschenk gemacht!“. Lauretania zuckte mit den Schultern und sagte: „Es ist nicht gerade virtuos…“. Nika protestierte. „Die besten Dinge sind einfach! Ich werde diese Melodie nicht mehr aus meinem Kopf bekommen!“ „Müssten Sie nicht schon lange bei ihrem Weihnachtsessen sein?“, fragte Lauretania schliesslich. Nika seufzte. „Das Festessen findet bei uns erst am 25. statt. Mir fehlt dieses Jahr aber leider das Geld, um nach Hause zu fliegen.“ „Darf ich sie in dem Fall zu einem Kartoffelsalat einladen?“, fragte Lauretania. „Sehr gerne!“, rief Nika begeistert. „Es geht nichts über Kartoffelsalat!“
Und so zog das ungleiche Paar durch die weihnachtlichen Gassen und rätselte darüber, was wohl Jesu Lieblingsessen gewesen war.