In diesen Tagen verweben sich Fiktion und Wirklichkeit. Vieles ist nicht mehr möglich, anderes entsteht. Die Zeit läuft nicht mehr linear. Äussere Einschränkungen verändern unsere Wahrnehmung vom Raum, die Welt draussen scheint in schockgefrorenem Zustand wegzubrechen, während eine unsichtbare Kraft in unsere Uhrwerke greift, um die Sekunden zu verlangsamen und Stunden anzuhalten. Aus dem Vakuum entsteht plötzlich eine Tiefe, aus dem Nichts entstehen Öffnungen. Die Ausgänge heissen Dostojewski, Tolstoi, Goethe und Bach.
Vom 27. Februar bis am 7. März hatten wir zwei Monde am Himmel wie in Murakamis Welt von von 1Q84 beschrieben. Die Protagonistin Aomame ersetzt die 9 mit Q als Zeichen für “question mark”, Fragezeichen, im Japanischen ebenfalls für die 9 stehend, um der neuen Wirklichkeit, in die sie durch eine Treppe auf der Stadtautbahn hinabgestiegen ist, einen Namen zu geben.
In den sozialen Medien wirft seit einiger Zeit Q Anon mit seinen kryptischen Botschaften Fragen auf. Q Anon deutet auf eine völlig neue Darstellung der Wirklichkeit hin. Seine Hinweise beziehen sich auf die langen Schatten des Tiefen Staates.
Bei Murakami lässt der Sektenführer, um dessen Gemeinschaft und ihre Machenschaften der umfangreiche Roman rankt, auf seinem Sterbebett verlauten: „Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben, und wo Schatten ist, gibt es Licht. Es gibt kein Schatten ohne Licht und kein Licht ohne Schatten. Ob das, was wir als Little People bezeichnen gut ist oder böse, weiss ich nicht. Es übersteigt gewissermassen unser Verständnis oder Definitionsvermögen. Schon seit Ewigkeiten leben wir mit ihnen zusammen. Seit der Dämmerung des menschlichen Bewusstseins, lange bevor es Gut und Böse gab.“ (S. 255, 3. Band.)
Diese Erklärung, welcher der Leader als Rechtvertigung für seine schändlichen Taten herbeizieht, impliziert die alte Theodizeefrage: Wie kann Gott etwas Böses zulassen? Natürlich gibt es dort, wo Licht ist, meist auch einen Schatten. Aber es ist nicht Gott oder das Licht, das Schatten wirft. Den Schatten wirft immer das Objekt, nicht das Licht selber, und damit unterliegt das Böse der Verantwortung und des freien Willens des Menschen. Die Kirchen haben Jahrhundertelang aus der Unverantwortlichkeit der Menschen Profit geschlagen. Dem Bösen konnte man sich gegen einen Unkostenbeitrag leicht entledigen, da Jesus scheinbar „für“ die Sünden der Menschen gestorben ist. Jahrtausendelang kam niemand auf die Idee, dass Jesus vielleicht „trotz“ der Sünden für die Menschen gestorben ist, bis ein Prophet namens Abd-ru-shin in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts darauf aufmerksam machte.
Genauso haben wir uns von der Postmoderne, der New-Age-Bewegung, der Musik- und Unterhaltungsindustrie einlullen lassen. Gut und Böse wurden entweder nihiliert, weichgespült oder als Fiktion auf die Leinwand verbannt. Wir sollten nicht merken, dass die Menschen selbst das Böse manifestieren. Unter Hypnose haben wir unsere Zustimmung gegeben, den Autoritäten, die für uns das Denken übernahmen. Wir wurden langsam immun gegen das Böse, haben die Augen vor ihm verschlossen. Wir haben uns ruhig stellen lassen, uns abgelenkt, uns Vergnügungen gewidmet, um uns nicht mit unseren Schatten auseinandersetzten zu müssen. Warum auch, vor wem sollte man ein nihilistisches Leben auch verantworten müssen.
So taucht in 1Q84 immer wieder ein Rundfunkgebühreneintreiber auf, der wie wild an die Türen seiner „Zechpreller“ hämmert. Tengo, der Protagonist, vermutet hinter dem zornigen und unerbittlichen NHK-Mitarbeiter seinen Vater, der im Koma liegt und dessen Bewusstsein nun ruhelos umhergeistert. Die Zeit der Abrechnung scheint gekommen: Die Menschen sollen für ihre konsumierten Illusionen bezahlen. (Ironischerweise erhöhte gerade Deutschland im Zuge der Notlage stillschweigend die Fernsehgebühren.) Wer in 1Q84 die zwei Monde nicht sehen kann, in der Dunkelheit nicht aufwacht, der existiert nicht weiter in dieser Wirklichkeit – oder anders gesprochen, der bleibt ein Opfer von 1984.
Die Vorreiter, eine Sekte, welche sich aus einer sozialistischen Jugendbewegung heraus entwickelt hat, soll für seine rituelle Gewalt an Kindern zur Rechenschaft gezogen werden. Fukaeri, die Tochter des Leaders, bringt die Handlung ins Rollen. Ihr gelingt mit zehn Jahren die Flucht aus der Sekte. Mit Hilfe eines schelmischen Verlegers, der den Coup seines Lebens wittert, und Tengo, des literarisch versierten Mathematiklehrers, gewinnt ihr Text, „Die Puppe aus Luft“, einen nationalen Literaturwettbewerb, welche ihre Erzählung zum Kassenschlager macht. Darin wird ein Mädchen zehn Tage mit einer toten Ziege isoliert, da sie scheinbar ihrem Auftrag als Hirtin nicht gerecht wurde, und den Tod der Ziege zu verantworten hatte. In Wirklichkeit war die Ziege aber bereits alt und krank. Aus dem Mund der Ziege steigen eines Nachts die Little People, welche eine Puppe aus Luft weben. Aus der Puppe wiederum entsteigt eine Kopie des Mädchens, welche als Daughter bezeichnet wird. Die Little People machen das Mädchen darauf aufmerksam, dass sie nun die Wahrnehmende sei, und ihre Tochter die Empfangende. Vom Horror ergriffen, gelingt dem Mädchen die Flucht. Im Laufe des Romans wird deutlich, dass die Sekte über mehrere „Daughters“ verfügt, welche in rituellen Gewaltakten als Medien dienen. Die Klone lassen sich als Allegorie für die multiple Persönlichkeitsstörung lesen, welche Opfer ritueller Gewalt zum Schutze ihrer Seele entwickeln.
Eine Frauenrechtlerin, die ihre Tochter an einen gewalttägigen Mann verloren hat, beauftragt ihre Fitnesstrainerin und Vertraute mit dem Mord des Leaders. Aomame wuchs ihres Zeichens selber in einer Sekte, den Scientology auf. Auch ihr gelang mit zehn oder elf Jahren die Flucht, ein Hinweis auf die Schwelle zur Geschlechtsreife, dem Zeitpunkt, an dem die Opfer ritueller Gewalt getötet werden.
Murakamis Schilderungen der Sekte bleiben rätselhaft. Die komplette Zertrümmerung der Gebärmutter eines Opfers, das sich in der Obhut der Frauenrechtlerin befindet, deutet die Dimension der Gewalt nur an.
Angesichts des Grauens, das sich auftut, wenn man im Bereich der rituellen Gewalt nur ein bisschen recherchiert, wird klar, dass sich diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht in Worte fassen lassen.
Diese satanischen Taten kommen nur langsam ans Licht, angefangen bei der „Mee-Too“-Bewegung und der Verurteilung Weinsteins. Auch hier fordern Frauenrechtlerinnen Aufklärung und Gerechtigkeit. Es scheint ganz so, als ob wir „sanft“ auf die Aufdeckungen vorbereitet werden. Während Weinsteins Opfer meist erwachsene Frauen waren, die im Show Business Karriere machen wollten, bot Epstein mit seinem Lolita-Express vornehmlich Teenager zum sexuellen Missbrauch an. An den Missbrauch Minderjähriger wurde die Gesellschaft jahrelang gewöhnt – durch Nabokovs „Lolita“, Gainsbourgs „Lemon Incest“, das der Chansonnier im Jahr 1984 mit seiner Tochter sang oder der Suggestivkraft der Bilder in Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“, während dessen Dreharbeiten Marlon Brando die neunzehnjährige Schauspielkollegin Maria Schneider vor der Kamera vergewaltigte. Die erotischen Bilder alleine geben keine Auskunft über das Alter der Schauspielerin oder ihrer Figur, und brennen sich doch in die männliche Phantasie ein. Die natürliche Ambivalenz männlichen Begehrens, das auf eine seelisch noch unreife Frau trifft, die der männlichen Aggression kaum gewachsen ist, wird nicht thematisiet.
In 1Q84 kommt es während eines Sturmes zu einer unbefleckten Empfängnis, während sich Tengo „unfreiwillig“ mit der siebzehnjährigen Fukaeri vereinigt. Dabei empfängt Aomame, Tengos grosse Liebe aus Kindertagen, seinen Samen.
Nach diesem Sturm ist Aomames Zorn verflogen. Zwei ihrer Freundinnen wurden Opfer männlicher Gewalt, weswegen sie sich zu Rachemorden hatte hinreissen lassen. Auch der Zorn ihrer Auftraggeberin hat sich gelegt.
In diesen Tagen lässt Trump verlauten: „Möglicherweise ist es die Ruhe vor dem Sturm.“ Auch der irische Präsident benutzt diese Worte.
Tengo und Aomame verlassen nun zusammen die Welt von 1Q84 und betreten eine dritte Wirklichkeit mit neuen Herausforderungen.
Und wir?