Ein Himmel zum Leben

Ich war in Madrid und meine selige Grossmutter war bei mir. Vom Fenster aus konnte ich das Dach einer Kapelle sehen. Der Himmel war wolkenfrei, und das Licht so warm, als ob die Sonne Honig über der Stadt ausgegossen hätte. Eine Ruhe lag über der Stadt, und ich brannte darauf, hinaus zu gehen. „Jetzt bleib doch ein wenig bei mir, wenn ich schon mal bei dir bin“, meinte meine Grossmutter. Ich umarmte sie.

Heute ist der Himmel wieder genauso wie im Traum in Madrid.

Ich zücke einen Bildband aus meinem Bücherregal: „Zehn grosse Meister der Malerei“, und bleibe bei El Greco hängen. Was für eine geballte Kraft und tiefe Harmonie in der „Auferstehung“ steckt; in den Gesichtern der Soldaten spiegelt sich das Entsetzten angesichts des Wunders, das sich vor ihren Augen ereignet – Jesus der hell erleuchtet über ihren Köpfen emporsteigt. Während die einen noch in Kämpfe verwickelt miteinander ringen, wenden sich die anderen bereits dem Licht zu. Der nackte Jesus trägt in der linken Hand eine weisse Fahne, dessen Faltenwurf sein Geschlecht bedeckt. Ein roter Umhang flattert um seine Schultern, als ob es ein Flügel wäre.

Bereits als Siebzehnjähige habe ich mich in Londons National Gallery darüber gewundert, wie diese alten Meister ihre Kunst zur Vollendung brachten, während wir modernen Menschen behaupteten, aufgeklärt und fortschrittlich zu sein.

Ich erkannte bei Greco eine spirituelle Dimension, die ich in meinem Alltag nur selten fand. Ich sehnte mich nach Transzendenz, und fand sie in Büchern, und ein bisschen in der Liebe. Und im Laufe der Jahre verschwanden im öffentlichen Raum immer wie mehr Orte, und in den Diskursen die Möglichkeiten, welche Einladungen für metaphysische Erfahrungen aussprachen. Und der Umgang im täglichen Miteinander wurde immer gehässiger, als ob sich die Liebe selbst aus Schutz vor der Kälte zurückgezogen hätte. Sogar die Kirchen wurden zunehmend verriegelt, wenn nicht gerade ein Gottesdienst gehalten wurde. Und doch traf der Brand der Notre Dame vor einem Jahr mitten ins europäische Herz. Auch Nichtgläubige waren fassungslos angesichts der Symbolkraft: Da ging eine Kultur in Flammen auf.

Wer werden wir Menschen sein, wenn weder Orte noch Bücher unser kollektives Gedächtnis mehr stützen, Museen geschlossen bleiben, unsere letzten Anker in der physischen Welt.

Die Isolation ruft uns wieder ins Bewusstsein, wie sehr wir doch sinnliche Wesen sind! Wir sind doch nicht auf die Welt gekommen, um vor Bildschirmen zu sitzen, dann hätten wir in der geistigen Welt den weitaus besseren Sitzplatz gehabt.

Ich gehe kurz nach draussen, um Luft zu schnappen. Beim Schloss versperren mir drei Kinder den Weg. Angesichts der 2-Meter-Regel ist es eine echte Herausforderung, ihre Schranke zu passieren. Ich bleibe stehen, und meine: “Gut, dann schauen wir halt mal, wer mehr Geduld aufbringt.” Ich lächle sie an, und sie lächeln mich an. Schliesslich erwecken sie den Anschein, als ob sie ihre Sperre aufgeben wollen. Ich wage mich einen Schritt nach vorne. Sie stellen die Sperre aber gleich wieder her, und grinsen mich an. Ich hebe einen Stein auf, und sage: “Dann bezahl ich halt mit diesem Stein.” Den wollen die kleinen Zöllner aber nicht akzeptieren. Schliesslich sagen sie mir, ich müsse eine Karte in den Schlitz stecken. Gott sei Dank habe ich meine Postcard dabei! Warum bin ich nicht drauf gekommen!

Das hätte sich Herzog Berchthold V von Zähringen auch nicht ausmalen können, dass man hier einmal Wegzoll mit sogenannt elektronischem Geld bezahlt! Die Technik: Unsichtbar!

Ich lausche dem Vortrag eines Astrologen, der über das Informationszeitalter referiert. Ich frage mich, warum alle vom Informationszeitalter sprechen, wo doch Wissende kaum zu Wort kommen.

Aber die Zensur scheint zu fallen.

In der Timeline auf Facebook erscheint ein Porno, als ob uns Facebook damit mitteilte: Hier habt Ihr den Zeitenwendeporno, ob ihr wollt oder nicht. Ihr werdet jetzt alle genötigt, hinzuschauen, auch wenn Euer Schamgefühl dabei verletzt wird.

Ich glaube, wir befinden uns im Informationsfilterzeitalter.

Zeit, unsere Intuition zu entwickeln.