“Tamangur” intravenös

Die Infusion rieselt in meine rechte Armbeuge, während ich Leta Semadenis „Tamangur“ lese. Ich stelle mir vor, wie die poetischen Sätze in mich hinein tröpfeln, und mich von innen her aufrichten. („Es sind immer die abwesenden Dinge, die so viel Platz einnehmen.“)

 

„Du brauchst nur die richtigen Wörter im Mund zu schaukeln, mein Kind, ein paar getrocknete Birnenschnitze und einen Holzherd, dann spaltet sich das Scheit von alleine.“, lacht eine innere Stimme, die sich plötzlich meldet, aus dem Busch geklopft von der verträumten Lektüre, die das Zusammenleben von Grossmutter und Kind im Bergdorf in kurzen Sätzen skizziert; eine Welt, in der es keine Handys gibt, aber einen Fernseher, und einen Kaminfeger, der mit seiner zu einer Schnecke zusammengerollten Bürste die Seelen der Menschen putzt, indem er ihnen die Bürste in den Hals steckt. Semadenis Sätze breiten sich aus wie ein aufgeschütteltes und frisch bezogenes Duvet in einem Hotelzimmer. Sätze, die so wahr sind, dass sie einem Tränen in die Augen treiben, weil dieser Mensch nicht mehr da ist, der diese Sätze aussprechen könnte, die eigene Grossmutter.

 

Jetzt will auch die Ärztin wissen, ob die Lektüre gut sei. „Auf jeder Seite fünf Weisheiten“, sage ich, ihrer strengen analytischen Art entgegenkommend. Sie will sich selbst davon überzeugen, und bittet mich, ihr kurz das Buch auszuhändigen.

 

„Man sollte es allen Frauen mit Nährstoffmängeln verabreichen“, sage ich, „Den Frauen, die ihre Gefühle nicht verstoffwechseln können, weil sie zu gross sind, zu giftig und fettig. Die Frauen brauchen diese Grossmutter, die ihnen gut zuredet und ihnen eine dicke Scheibe Brot abschneidet, den Brotlaib an den grossen Busen gedrückt, symbolisch gesprochen. Die nährstoffarmen Frauen vertragen ja auch das Glutein sehr schlecht.“

 

Die Ärztin schaut mich mit ihren wachen Augen an. „Oder ihnen einen Brotauflauf zubereitet. Wann haben Sie das letzte Mal einen Brotauflauf gegessen? Das wärmt doch den Bauch, alleine das Wort „Brotauflauf“. Am besten wäre natürlich, diese Grossmutter aus dem Buch direkt neben dem Infusionsständer zu platzieren, für die Lesefaulen. Sie müsste eine Antwort wissen, auf dieses Dilemma, auf diese Gefühlsbrocken, die da im Bauch festsitzen und die Aufnahme der lebenswichtigen Vitamine verhindern. Vielleicht würde sie sagen, dass die Frauen ein bisschen hassen sollen. „Fürs Schlaraffenland haben wir später Zeit.“, sagt sie im „Tamangur“. Können Sie Frau Semadeni nicht gleich anrufen, vielleicht kennt sie diese Grossmutter persönlich, ja bestimmt, wenn sie sie doch erschaffen hat!“

 

Die Ärztin überprüft die Infusion, ob die Tropfen auch regelmässig in meine Blutbahnen kullern.

„Wenn die Gefühle im Bauch und nicht im Herzen sitzen, dann kochst du nicht mit Liebe und isst mit dem Verstand, das gibt Bauchweh.“, höre ich meine innere Grossmutter sagen.

„Du musst alles zerkauen: Den Hass, den Neid, die Eifersucht, die Liebesbedürftigkeit, ja sogar die Liebe selbst, denn sie kommen jeden Tag aufs Neue auf deinen Teller, und kaust du nicht gründlich, hängen die Gefühle im Magen wie Steine. Ja sogar die Liebe wird zum Klumpen, wenn sie nicht jeden Tag frei fliesst.“ Ich staune darüber, was meine innere Grossmutter alles weiss. Kennt sie womöglich die Grossmutter aus dem „Tamangur“?

 

Später in der Nacht rüttelt mich meine Grossmutter wach: „Die heutigen Frauen wollen warten, bis die Seele glatt ist wie Seide, bis sie zu leben anfangen. So leben sie nur Sekundenweise, von Höhenflug zu Höhenflug, ohne jeweils den Abstieg zu wagen. Kein Wunder, spüren sie einen Mangel, einen Mangel an Wetterfestigkeit.

Ach herrje, wann beginnt Ihr Frauen wieder Euren Busen mit Stolz zu tragen. Einen Busen unter dem ein Herz pocht, ein richtiges und kein Valentinstagsschokoherz, das an der Sonne schmilzt.“

 

Ich schreibe die Zeilen nieder und schlafe wieder ein.

 

Im Traum will mir ein Teenager ein grosses Glas Nutella anbieten. Er ist sehr enttäuscht, als ich sage, dass ich kein Brot esse.