In der Dunkelkammer

Ich liege da, auf meinen Augen in Schwarztee getünchte Wattebausche, als aus dem Nichts Erinnerungen hochsteigen.

 

Vietnam 2013.

 

In Huế, der ehemaligen Hauptstadt Vietnams im Norden, fragte ich in einem Restaurant nach einer Banane zum Mitnehmen, da ich draussen im Dauerregen in meinem Viertel keinen entsprechenden Marktstand gefunden hatte. Es war Regensaison, der Regen machte kaum je eine Pause. Die Menschen gingen trotz der kühlen Temperaturen in Flip Flops umher. Es war das einzige Schuhwerk, das schnell trocknete. Die klimatische Unwegsamkeit erzeugte jedoch in der umliegenden Hügel- und Gebirgslandschaft ein fluoreszierendes Grün, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich wollte mir die Zitadelle mit der verbotenen Stadt ansehen, eine Palastanlage, die von 1802 bis 1945 den Kaiser stellte.

 

Ich hatte einen Kaffee getrunken, vielleicht auch eine Nudelsuppe gegessen, und mich mit dem Kellner unterhalten, es war bereits die zweite oder dritte Unterhaltung mit dem jungen Mann gewesen. Ein Mädchen händigte mir schliesslich mein Lunchpacket aus. Später, als ich meine Banane essen wollte, entdeckte ich darauf einen Schriftzug: „I hate you“. Ich weiss nicht mehr, ob ich die Banane gegessen habe oder sie des schlechten Karma wegens verschmähte. Wer will denn schon Hass essen. Ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, dass ich in irgendeiner Weise die Eifersucht einer jungen Vietnamesin geweckt hätte.

 

Ich war schon dreissig, fühlte mich mit meinem europäischen Körper sehr ungeschickt unter den agilen, filigranen Menschen, die nicht nur eine unglaubliche Disziplin, einen Gleichmut und Einfallsreichtum an den Tag legten, sondern auch einen Sinn für Ästhetik hatten, der unsrem haushoch überlegen war. Es gab kein Mädchen, das nicht hübsch gewesen wäre.  Die jungen Frauen trugen kurze Röcke oder Etuikleider, elegante Blusen und hochhackige Schuhe. Sie waren stets perfekt geschminkt, und schüttelten ihre langen Haare, wenn sie von ihrem Roller stiegen und den Sturzhelm auszogen. 

Die jungen Männer zupften sich die Brauen, trugen trendige Frisuren und  perfekt gebügelte saubere Hemden. Auch sie wirkten wie aus dem Ei gepellt.

 

Ein solch makelloses Äusseres jagte mir Angst ein. Ich fühlte mich daneben ungepflegt, auch wenn ich gerade geduscht hatte. Ich fürchtete um jedes Hautschüppchen, das sich auf meinen Brauen festsetzte, um Härchen, die ich übersehen hatte, mal abgesehen von Pickeln und Hautunreinheiten. In diesem Kosmos fühlte ich mich so fremd, dass ich nicht im Entferntesten an einen sexuellen Kulturaustausch gedacht hätte.

 

Aber wahrscheinlich richtete sich der Hass des Mädchens auch nicht primär gegen mich als Frau, sondern gegen alle „Hellos“, wie die Weissen im Land genannt wurden. Gegen junge TouristInnen, die oft monatelang im Land blieben, mit Geld um sich warfen, weil alles so fucking cheap war, die an einem Tag einen ganzen Monatslohn eines vietnamesischen Durchschnittsverdieners verprassten, und sich niemals fragten, wie so etwas möglich sein konnte. Und natürlich sind meine Schilderungen klischiert. Sie beschreiben die städtischte Bevölkerung. Die ärmere Landbevölkerung hatte natürlich andere sorgen als Fashion. Um einem Huhn auf dem Markt den Hals umzudrehen, brauchte man kein Etuikleid zu tragen, wobei die Anmut niemals von schicker Kleidung abhing.

 

In einer anderen Sequenz sitze ich auf einer Bank vor dem Gorillakäfig in Saigon. Kinder fragen mich, ob sie ein Foto mit mir machen können. Ich rätsel immer noch, ob Fotos von uns Hellos damals wie Panini-Bildchen gehandelt wurden oder ob die Neugierde der Kinder so absichtsfrei war, wie ich sie im ersten Augenblick wahrgenommen hatte.

 

Ein anderes Mal war ich ganz im Süden am Mekong. Ich war der einzige Gast in der Pension. Das Gästehaus mutete wie ein stattliches Landhaus an, eine kleine Residenz mit hohen neoklassizistischen Säulen. Mein Gastgeber war Franzose und schwärmte mir etwas von Weichkäse vor. Er sagte auch, wir Europäer müssten zusammenhalten, die Vietnamesen seien alles Gauner. Er hatte ein kleines Äffchen als Haustier, das ich auf meinem Arm halten durfte. Es schaute mich mit grossen eindringlichen Augen an, und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Gastgeber wollte mit mir tanzen gehen, und ich dachte: „Tanzen?“ In der Nacht träumte ich schlecht, und am Morgen wusste ich: Ich muss hier weg.

 

Seltsam, an welche Dinge man sich erinnert. An welche man sich nicht erinnert, das lässt sich leider nicht sagen. Es müsste einer kommen und einen erinnern. Einer vom Geheimdienst vielleicht, besser natürlich ein Freund. Aber den müsste man ja dann enttäuschen wegen eben dieser Gedächtnislücke. Es wäre schon sehr seltsam, käme da einer mit verstaubten Küssen an vergessenen Küsten, mit Fotos von Provinzbahnhöfen, auf denen man rauchend zu sehen ist, vielleicht auch betrunken inmitten einer Horde Unbekannter, grimassierend. Oder er zeigte einem Szenen im Familienkreis auf Video, ein grosses Schweigen, das sich wie eine Pfütze Pech ausbreitet, ein Schweigen, das von einem selbst ausgeht oder es wären zornige Vorwürfe zu hören, ausgesprochen von der eigenen Stimme. Wahrscheinlich erkannte man sich selbst nicht mehr, käme einer mit diesen Momenten um die Ecke, Momente irgendwo auf einem Friedhof in einem südlichen Land, in einer Apotheke in Begleitung einer längst vergessenen Freundin, bei der man sich irgendwann nicht mehr gemeldet hat, im Gespräch mit wichtigen Leuten an einem Stehapéro in einem staatlichen Gebäude – was für ein künstliches Lächeln man dabei aufsetzt – monologisierend nachts in der Grossstadt – man würde vom Glauben abfallen, sich selbst zu sein.

 

Aber vielleicht gebe es da auch die Überraschungen, Momente der Güte, in denen man ganz selbstverständlich gegeben hat, ohne dabei die eigene Grosszügigkeit zu bemerken.

 

Das alles hat wahrscheinlich nicht viel mit der entzündungshemmenden Wirkung von Schwarztee zu tun, aber mit den Augen, die oft zu wenig genau hinsehen, um jeden einzelnen Moment als erinnerungswürdig zu betrachten.