Enge Grenzen, weite Gefühle / En attendant / Apéro Riche

Robert fragt, ob er sich an den Nebentisch setzen dürfe.

„Ja klar, der ist doch frei.“, sage ich.

„Ja, ich meine bloss. Ich würd mich ja gerne an deinen Tisch setzen, wenn ich dürfte.“

„Das darfst du eben nicht.“, sage ich.

„Nein, das darf er nicht.“, sagt die Kellnerin.

„Also setz dich, Robert. Ein Ballönchen?“

„Ja, 99 Luftballons bitte und ein paar Friedenskanister. Für die Dame eine Stange.“

„Aber es ist doch erst 16.00 Uhr“, protestiere ich.

„Ja eben, es gibt keine bessere Zeit als nachmittags einen hinter die Binde zu kippen.“

„Na gut, wir haben ja nichts vor. Sollen die anständigen Menschen das Anständigsein verteidigen, um abends vor ihren Flachbildschirmen erlöst zu werden, uns soll’s recht sein.“

Am Horizont nur Zeit und Abstände. Mir scheint, dass die Abstände die Zeit dehnen. Die Gespräche werden luftiger. Die Gesten grösser.

„Eine ganze Welt ist verschwunden. Adieu, wie soll ich dich nennen? Eine gute Welt warst du nicht. Vermissen tu ich dich auch nicht. Aber ich will dich hier jetzt auch nicht schlecht machen, wir haben beide unseren Teil dazu beigetragen, zum Untergang.“, skandiert Robert.

„Ganz recht. So wie früher wird’s nimmer mehr. Dieses Früher hat uns ja auch dahin geführt, wo wir jetzt sind, wo wir nie sein wollten, und uns weigern zu sein.“

Mein Blick fällt auf die roten Geranien auf der Balustrade gegenüber. Die Kellnerin bringt mit weit abgespreiztem Arm die Getränke an unsere Tische.

„Ach Fräulein Geraldine, nicht so humorlos bitte! Weigere ich mich etwa zu sein? Nein. Die Welt hält den Atem an. Die Regierenden machen sich grad zum Gespött der Götter – wir hätten uns keinen besseren Sitzplatz in der Geschichte aussuchen können.“

„Ja eben, da sitzen wir.“

Ich blase den ganzen Tag schon Trübsal, und versuche mir etwas zu wünschen, aber ich weiss nicht, was ich mir wünschen könnte.

„Ob wir stehen, sitzen oder liegen tut jetzt auch nichts zur Sache.“

„Aufstehen sollten wir“, sage ich.

„Wofür, wozu? Ich trink doch nicht im Stehen! Lass sie reden. Lass sie ihre Grenzen ziehen. Aber sollen wir uns deswegen unsere Laune verderben lassen? Wollen wir uns an ihre Grenze begeben, damit sie ihr Recht durchsetzen können? Nein, ich weigere mich. Ich bleibe schön hier sitzen und ignoriere ihr Gerede. An meine Grenzen kommt ihr Geschwätz nicht ran, da können sie mir bis in meine Wohnung folgen, bitteschön, aber hier“, Robert klopft mit der rechten Hand gegen sein Herz, „hier haben sie keinen Zutritt. Prost!“

„Ja, immer versuchen sie ihren Rahmen über uns drüber zu stülpen. Aber wir sind doch keine Leinwände, auf die sie ihre wahnhaften Zukunftsvisionen projizieren können!“

„Notrecht nennen sie ihren Rahmen. Die Frage ist bloss, wer hier in Not ist? Könnten sie ihre Statistiken richtig interpretieren, könnten wir genau von einer Not sprechen, und zwar von einer Erklärungsnot.“ Robert bricht in schallendes Gelächter aus.“

„Es wird gelockert.“

„An Pfingsten dürfen wir auch wieder zum Gottesdienst.“

„Amen.“ Robert lacht.

„Ach Robert, manchmal denkt es mir mitten in diesen prächtigen wolkenfreien Tag hinein, noch während ich den Duft des Heus einatme: «Was mache ich hier mit meinem Zollstock – jedem auf den Po klatschend, der mir zu nahe kommt.» Sosehr ich das Alleinsein auch liebe, plötzlich öffnet sich vor mir dieser Abgrund. Ich falle, und ich weiss nicht wohin. Ich bekomme Angst, weil ich nichts fühle. «Ich fühle meine Angst zurück», denke ich. Ich sage: «Ich will meine Gefühle vorwärts, nicht zurück, vorwärts will ich sie fühlen.» Verstehst du was ich meine?“

Robert kneift die Augen zusammen wie ein Kurzsichtiger, der sich bemüht, scharf zu sehen.

„Wir klammern uns ans Alte, willst du sagen?“

„Ja und nein. Meine Angst ist alt, wenn ich sie verdränge, dann falle ich. Und wenn ich sie durchfalle, erblicke ich plötzlich einen Schmetterling mit ungewöhnlich grossen Flügeln. Wir brechen beide in dieselbe Richtung auf und alles, was der Schmetterling sagt ist: «Ich weiss doch auch nicht, aber ist es nicht schön!»“

„Ja es ist schön!“, sagt Robert nachdenklich.

„Viva!“