Von Fallen und Zehen

Es ist nicht so, dass ich keiner Schuhe mehr bedurft hätte, im Gegenteil, einen ganzen Schuhladen hatte ich benötigt. Und Herr Jesensky hatte mich auf frischer Tat ertappt. Kaum hatte er mich zwischen den Regalen entdeckt, war er auf mich zumarschiert und hatte ausgerufen: „Na, na, wo kommen wir denn da hin, wenn plötzlich die Schuhe oben auf schwimmen! Machen Sie denn Schuh nicht zum Boot.“ Also hatte ich aufgehört zu heulen, und fuhr mit meiner anästhesierten Zunge in meinem tauben Mund herum oder umgekehrt. Ich wollte unbedingt reden, etwas sagen, mich erklären, mich mitteilen, aber ich musste erschreckt feststellen, dass nur tierische Laute aus meiner Kehle drangen. Herr Jesensky reichte mir einen Notizblock, und so fing ich an, mir die Seele vom Leib zu schreiben, wie man so schön sagt. Ich schrieb, dass mich das Glück nun doch malträtiert hatte, ganz plötzlich zeigte es mir seine Zähne, indem es kaltschnäuzig mit der Schulter zuckte und wortlos zur Türe hinausging.

Ok, das passiert jedem. Das ist nun wirklich nicht spektakulär. Das ist nun jetzt wirklich etwas kindisch, ein klitzekleines unvermutet auftauchendes Unglück persönlich zu nehmen. Ihm gar noch einen Namen zu geben. All diese Namen! „Finden Sie nicht, wir sollten aufhören mit den Namen?“, fragte ich Herr Jesensky. Und er sagte: „Welche Namen?“ Jetzt tat er also wieder begriffsstutzig, damit er mich überführen konnte. Nannte ich jetzt nämlich einen falschen Namen, konnte er mich der Paranoia bezichtigen, nannte ich den richtigen, konnte er mich ebenfalls der Paranoia bezichtigen. „Das ist es ja gerade“, lallte ich. „Die Namen schaffen Verwechslungen, und wenn sie keine schaffen, schaffen sie Klarheit, und wer die Klarheit nicht will, der nennt sie wiederum Verwechslung, schliesslich kann sich ja jeder täuschen, es muss nicht mal Absicht dahinter stecken, weil sich die Absicht gut versteckt.“ Herr Jesensky las laut vor. Aus seinem Mund klangen meine Worte grandios. Ich gratulierte Herr Jesensky zu seinem neuen Therapieansatz. Plötzlich verstand ich die Mühe, die es ihn kostete, mir zuzuhören. Mich beschlich der Gedanke, dass er mir womöglich gar nicht zuhörte, sondern zu meinen Erläuterungen meditierte, und seine Bestätigungslaute nur vorgaben, dem Gespräch zu folgen. Und mit seiner neuen Methode musste er wiederum nichts weiter tun, als meine Gedanken zu repetieren, sprich, an jenem besagten Tag im Schuhladen fiel mir zum ersten Mal auf, dass Herr Jesensky ein fauler Sack war. Und endlich kam der Trotz, ironischerweise an jenem Tag, als meine Zunge taub war. An jenem Tag, als mir der Speichel aus dem herabhängenden Mundwinkel rann, lernte ich, zu rebellieren. Lautlos rebellieren, was gab es besseres für eine, die sich Dichterin nennen wollte! Ganz im Stillen, mit nasser Wange auf dem weissen Blatt Papier, in der Luft der Geruch von Schuhwichse, im Blickfeld bleiche, blau geäderte Männerknöchel, die unbeholfen nach Modellen suchten, sich dieses Vorganges zu tiefst schämend, wohl wissend um die Haare auf dem grossen Zeh. Zu gerne hätte ich gewusst, ob auch Herr Jesenskys Zehen behaart waren, aber das führte nun wirklich zu weit. Über die Abgründe der anderen soll man ein Tuch spannen, (wobei doch garade das Tuch den Abgrund zur Falle macht, wenn die Spannung nicht ausreicht, um Trampolin zu springen), den Nackten bedecken – noch immer bin ich ein hochanständiger Mensch, im tiefsten Elend galant, also kann es nicht gar so schlimm um mich stehen. Ich bereute, diese Worte nicht niederschreiben zu können. Sie berührten mich in ihrer Klarheit. Gerne wollte ich mich an sie halten, wenn doch eines Tages die Fassung wie ein schwerer Schleier von mir abfiel, die Burka des guten Willens, und das konnte schneller passieren als einem lieb war – im Fieber, im Todeskampf, wer sind wir dann noch? Herr Jesensky schaute mich missmutig an. Da wir keinen offiziellen Termin hatten, wusste er nicht, was er mit mir anfangen sollte. „Sie können mich alleine lassen“, las er vor. Also packte ich die Gelegenheit beim Schopf, und ging. Ich glaube, Herr Jesensky war dankbar, dass er nun endlich auch ungestört in einen Schuh schlüpfen durfte.