Der frittierte Tempeh mit einer Meerrettichveganese liegt auf einer Auberginenscheibe und einem Kürbismoussebeet, garniert mit Kresse und einem Spritzer Sojasauce. Das Gericht ist zu Umami-lastig, dem Kürbis fehlt die Süsse und die bittere Note der Kresse schmeckt man kaum raus. Ein Pflaumenkompott würde das herzhafte Gericht herrlich ausgleichen, auch von der Textur her; dem Gaumen fehlt etwas Weiches, aber auch etwas Knackig-Krachendes.
Gegenüber sitzt ein Mann Mitte vierzig mit weiblicher Begleitung. Die Selbstverständlichkeit ihres Umgangs lässt auf ein Paar schliessen. Der Mann schaut mich an, da ich in seinem Blickfeld liege und ihn «ostentativ» anstarre. «Ostentativ», das Wort geistert mir seit Tagen im Kopf herum. Eigentlich starre ich eher zwanghaft, ahnend, dass ich dabei ein ziemlich mürrisches Gesicht mache. Er trägt einen feinen Oberlippenbart und erinnert mich an einen Songwriter, dessen Musik ich mag. Vielleicht wäre er mir sonst gar nicht aufgefallen. Erstaunlich wie oft Erinnerungen und Assoziationen unsere Wahrnehmung lenken und sich «reine Wahrnehmungen» immer seltener einstellen, je älter wir werden. Das Paar ist wie aus dem Ei gepellt, obwohl es eine Mischung aus Funktionskleidung und Hipsterlook trägt – weisse wadenlange Sportsocken, die so stolz getragen werden, als handelte es sich dabei um Seidenstrümpfe von Kunert. Das lange Haar der Frau glänzt. Ich sehe ihr Gesicht erst, als sie aufsteht. Und da offenbart sich mir in einer Millisekunde was die beiden verbindet. Auch das Paar leidet unter dem Mangel der reinen Empfindungen, der tiefen Gefühle, der Intensität. Sie gleichen einem Gericht in diesem Gault-Millau Restaurant: Kochkunst auf einem hohen Niveau, aber etwas fehlt. Sie sind schön, sie haben eine gepflegte Wohnung mit assortierten Vintage-Möbeln, eine grosse Plattensammlung, häufig Gäste. Sie wissen, was angesagt ist, und führen mit ebenso gutaussehenden und hippen Leuten Gespräche über Wein, Musik und Kunst. Vielleicht auch über Bitcoin und Auswandern nach Dubai. Sie naschen auch mal ausserhalb, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Daraus machen sie kein grosses Ding, sie sprechen schlicht nicht darüber, um einander nicht zu verletzen. Es gibt kaum etwas, das sie nicht auch schon ausprobiert hätten: Rollenspiele, Sextoys, Potenzmitttel, Aphrodisiakum, Dreier, Swingerclubs, Tantra und Trallala.
Und in diesem Moment, als ich ihr Profil vor Augen habe, ihre täglichen Gänge in Paris, die gemütlichen Sonntage im Bett mit Baguette und Erdbeerarmelade, ihre klitzekleinen Kokainexzesse, Elternbesuche und ihr Hochzeitsplanung, frage ich mich, was mich so sicher macht, zu dieser Szenerie dazuzugehören, hier in der Altstadt von Split in Dalmatien im milchigen Oktoberlicht, das mich mit der Welt versöhnt.
Dass ich auch Irgendeine bin – mit einem Schal vom letzten Thailandurlaub, einer Jeansjacke, als ob ich so durch die Jahrzehnte reiste und Turnschuhen, um jederzeit losrennen zu können. Bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen sagte die Beamtin zu ihrem Kollegen auf Französisch: «Schau, sie hat es eilig, sie trägt Turnschuhe.» Ich antwortete: «Mais oui».
Ich bin eine Mischung aus Isabelle Huppert in «La dentellière» – ja, seltsamerweise werde ich Pomme immer ähnlicher, je älter ich werde – und einer Violinistin im Symphonieorchester einer deutschen Kleinstadt. Irgendetwas habe ich verpasst, aber ich weiss nicht was.
Könnte es nicht auch sein, dass ich mir meine Erscheinung nur einbilde, dass ich in Wirklichkeit eine Katze bin? Gut, ich habe Bargeld dabei, das ist schon auffällig. Als Katze wären mein Charme und mein glänzendes Fell mein Kapital, meine Schlauheit und Schnelligkeit. Voilà, da haben wir’s doch, ich sitze in Turnschuhen hinter der Fischhalle. Die Haare etwas ungeordnet, eine Pflegespülung täte Not. Wäre ich eine Katze und würde mir vorstellen, ein Mensch zu sein, wäre ich auf jeden Fall vegan. Aber als Katze kann ich nun mal keinen Ackerbau betreiben. Über meine edle Gesinnung müssen wir uns jedenfalls nicht unterhalten.
Ich stelle mir vor, wie ich mich auf der Fähre von Brač nach Split zwischen Miroslav und Matja lege. Miroslav arbeitet auf der Insel als Haustechniker in einem Luxusresort, Matja ist für die Gartenanlage zuständig. Die beiden Männer spielen beide mit weit ausgestreckten Beinen auf ihrem Handy rum. Miroslav hat grosse, kräftige Hände, darauf achte ich als Katze, auf Streichelhände. Seine linke Hand ist tätowiert, was ihm etwas Verwegenes verleiht. Sein Blick gleicht einem Leguan, er ist wachsam, lächelt nicht, wirkt aber in seiner Ernsthaftigkeit friedlich. Matja, der jüngere Bruder, ist der verträumte. Er hat weiche Gesichtszüge und er ist emotional sehr durchlässig. Seine Entscheide fällt er aus dem Bauch raus, nur mit den Frauen lässt er sich Zeit. Und wenn er an jedem Finger eine hätte, würde er es seinem Bruder nicht verraten, denn Miroslav ist diesbezüglich altmodisch. Ich lasse mir von den beiden das Köpfchen kraulen und strecke mich wohlig aus. Matja streichelt mein Bäuchlein und in Sekundenschnelle habe ich mir mein Bild gemacht: Bei Miroslav bekomme ich pünktlich mein Essen, Matja wird mich in der Nacht nicht aus seinem Bett werfen – einzig die Weiber könnten ein Problem werden.
Und ich frage mich als Katze, wenn ich denn jetzt ein Mensch wäre, weiblichen Geschlechts, ob mich Miroslav und Matja auch so kraulen würden. Oder ob sie mich fragten: «Wer sind Sie eigentlich?» Ja, warum fragt man das die Katzen nicht! Sie können sich nicht vorstellen, wem ich so alles über den Weg laufe. Da ist zum Beispiel Professor Pavic, der rote, langhaarigen Kater, der sich aufführt, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber absolut alltagsuntauglich ist. Würden die Menschen nicht alle seinem Charme zum Opfer fallen, wäre er längst verhungert. Oder Paula Bożena, eine unmögliche Katze. Sie hält sich für eine Opernsängerin und miaut die ganze Zeit rum. Man müsste meinen, irgendwann fiele auch der dümmsten Katze auf, wenn sie mit dem Gemaunze keine Erfolge erzielt, nicht so Paula Bożena.
Ein Gedanke hängt noch bei den verpassten Möglichkeiten. Eine Katze fragt sich das nicht: Was habe ich verpasst. Katzen lieben es, Dinge zu verpassen und stattdessen von ihnen zu träumen.
