Zuckerwatte

Heute will ich mir den Sonntagsmenschen anschauen. Der Schweizer ist tendenziell ein schlechter Sonntagsmensch. Er leidet allzu schnell an einem schlechten Gewissen, wenn er sich ausruht, da ihm auch immer wie mehr die Religion abhandenkommt, womit der Sonntag seine Legitimation einbüsst. Diese Lücke füllt der Sonntagsblick. Früher hatte ich manchmal an Sonntagen Lust, ein gutes Kind zu sein. Dann holte ich beim Bäcker frische Brötchen und die Zeitung für den Vater. Die seichte Unterhaltung hat er sich nur sonntags gegönnt. Unter der Woche war er gebildet. (Das Internet hat vieles verändert, und der Boulevard lässt sich mit einem Klick ins Wohnzimmer holen, was auch ich regelmässig tue, nicht nur sonntags.)

Heute besuche ich das alternative Volksfest auf dem Place de la Résistance, wo Menschen Bier trinken, die aussehen, als ob man sie direkt aus einem verschimmelten Pub in Camden Town hinausgezogen hätte. Ich fühle mich wie eine zivile Fahrkartenkontrolleurin, die man misstrauisch beäugt. Ich weiss nicht, warum ich es immer wieder mit Volksfesten versuche, obwohl ich nach jedem Spaziergang durch ein Festzelt diesen schalen Geschmack im Mund habe. Ich gehe erneut durch die Gassen des kommerziellen Volksfestes. Warum die Menschen seit Jahrzehnten den Karikaturisten über die Schulter schauen, sich bunte Strähnen in die Haare flechten lassen, warum ihnen die Bratwurst nie verleidet, bleibt für mich rätselhaft. Sie gehen angestrengt durch die Menge, und wenn man sie fragt, warum sie das tun, sagen sie: Wegen der guten Stimmung. Den ganzen Tag schon denke ich an Peter Stamm, vermutlich weil er aus diesen Atmosphären des kollektiven Rausches schöpft. Er hätte eine schöne Geschichte zu erzählen, wie sich vielleicht Petra und Mohammed auf dem Riesenrad zum ersten Mal küssen, hoch oben über den Dächern der Stadt, ein bisschen näher bei Gott und bei Allah als die Menschen in den engen Gässchen unter ihnen. Dann beginnt Moha, wie ihn Petra nennt,  glücklich, dass sie seinen Kuss erwidert, die Gondel zu drehen, und sie drehen sich im Kreis, immer schneller und schneller. Liebe heisst, sich im Kreis zu drehen, denkt Petra. Wieder festen Boden unter den Füssen, kaufen sie Zuckerwatte. Vor ihnen sagt ein Vater mit kleinem Bub an der Hand zu der Zuckerwattendame: Sie sehen ja selber aus wie eine Zuckerwatte. Und es stimmt, Zuckerwattefäden kleben in ihren Haaren, an ihrem Kragen, und die Dame, die kaum älter ist als Petra, lächelt gezwungen. Moha schiebt seiner Freundin, als die er sie fortan vorstellen wird, nur nicht seinem Vater und seiner Mutter, ganz viel von der Zuckerwatte in den Mund, etwas zu grob und übermütig, wie es fünfzehnjährige Jungen tun. Petras Mund ist so voll, dass sie ihre Zunge darin nicht finden kann, und mit diesem blöden Gesicht erblickt sie ihre Schwester, die auf sie zurennt, und den Jungen neben ihr von oben bis unten mustert. Unter den Blicken der Schwester fühlt sich Petra plötzlich schuldig und ihr Blick fällt auf einen springenden Delfin bei Sonnenuntergang.

Gerade heute lesen wir im Blick, dass ein junger Bieler Dschihadist in Syrien von IS-Terroristen hingerichtet wurde.

Warum Aline mit dreissig immer noch ein Punk ist? Die Frage sei völlig falsch gestellt, sagt sie. Es handle sich hierbei schliesslich um eine politische Frage. Dabei nestelt sie an ihrem Nasenpiercing herum. Die ganze kapitalistische Scheisse, sagt sie, ich habe es bis hier, und sie unterstreicht mit ihrer rechten Hand ihren Überdruss, während sie in der linken Hand eine Bierdose hält. Aline ist seit zwei Jahren mit Tom zusammen. Tom ist Sänger der fliegenden Pflastersteine. Zusammen wohnen sie im alternativen Zentrum Zack, und beteiligen sich an antifaschistischen Aktionen wie beispielsweise dem Ausfindigmachen von Adressen Rechtsradikaler. Aline und Tom hätten schon gerne Kinder zusammen, nur noch nicht gerade jetzt. Sie kümmern sich erstmal zusammen um Randy Krumm, einen Mops. Mal sehen, wie das funktioniert. Wie sie auf den Namen Randy Krumm gekommen seien? Keine Ahnung. Klingt doch geil oder. Na Randy? Krummi mein Krümmelchen.

Unterdessen erschlage ich mit Zarathustra eine Motte.