Schweissband

Die Dichterinnen tragen Tennisröcke und wischen sich mit dem Schweissband die Anstrengung von der Stirn. Dabei sehen sie unverschämt gut aus. Ich höre wie sie stöhnend die Bälle über das Netz pfeffern, sowie sie das Jahrzehntelang geübt haben, während ihnen Männer im Traum zuraunten: Ingeborg du stirbst nicht.

Ich habe einmal mit einem Halogenstrahler mein Badezimmer angezündet, während mein Protagonist namens Ian fragte: „Willst du vom Schreiben leben?“ Als ich vom Laptop aufschaute, drang Rauch aus dem Badezimmer.

Genau genommen möchte ich vom Leben leben. Ian sagte: „Du musst nicht gegen den Strom schwimmen. Du musst aussen vor bleiben.“ Aber ich schwimme gerne, Länge um Länge. Eintauchen, Auftauchen. Nur dumpfe Geräusche und den Sauerstoff, den ich durch die Nase unter Wasser ausatme. Ich durchpflüge ein Feld. Das Feld heisst Erinnerung und besteht aus weichen kühlen Spinatbeeten. Dabei mache ich keinen wichtigen Kopf. Ich mag keine wichtigen Köpfe, werde aber wütend, wenn jemand mein Gesicht als Überraschungstüte missbraucht, indem er mir unvorbereitet Sätze entgegenwirft, die ihre Wirkung entfalten, bevor ich über sie nachdenken kann.

Jetzt erst lese ich Malina.

Ich schlage ein zerknittertes Moleskin-Heft auf. Das habe ich vor einem Jahr in Milano in einem Bücherladen am Bahnhof erstanden, aus Angst, ich würde meinen 50 Euro Schein nicht los. Aber Milano ist eine reiche Stadt, wo auch kleine Kneipen grosse Scheine annehmen. Ich schrieb in dieses Heft: „Jetzt hätte ich Zimmerstunde, von 14.00 bis 16.00 Uhr. Stattdessen bin ich in Mailand und schaue mir den legeren italienischen Service an. Nach aussen hin top gestylt, bis irgendwann auffällt, warum die Serviceangestellten so top gestylt bleiben. Weil sie sich kaum bewegen.“ Auf der nächsten Seite steht: „Ich mag Geld nicht sonderlich, daher gebe ich es gerne aus.“

Am nächsten Morgen flackert im Frühstückssaal eine Nachricht über den Bildschirm. Flugzeugabsturz, Malaysia Airlines, Ukraine. Ich verstehe den Zusammenhang nicht.

Die Melodie von Malina im Ohr, den Rhythmus hinter den Augen, als Zucken der Lichtstrahlen, als feine Schweissperlen zwischen den Brüsten. In der Hitze komme ich zu keiner Konklusion. Im Heft steht: „In der Hitze zu einer Konklusion zu kommen, ist nicht möglich“. Aber der Infinitiv passt nicht zum Hochsommer, der ist was für den Herbst, für den Maronistand, für Literaturrichter. Der Tag, immer freitags, da dann das Schreiben beginnt, und die Wochentage ohnehin nicht in Sequenzen zu erleben sind, da anstelle von Augenblicken „Abläufe“ treten, gliedert sich in Mikrosequenzen. Eintauchen, Auftauchen, ein experimenteller Film aus dem Jahr 2006. Extase. Loveparade. Den Impuls in den Geist ziehen, aufblasen, wie ein Luftballon, blasen bis er platzt. Dann erstaunt laut aufschreien. Junge Mädchen mit grossen Brüsten werden seltener. Durchschnittsgrösse 75 B. Wie ich das weiss? Ich weiss nicht, das sieht man doch, welche Kleidergrösse jemand trägt. Jedes Mal wenn ich im Cafe Odéon sitze, fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Fassade. Die Fenster eines Frisörsalons werden von Kusslippen eingerahmt. Virginia Woolf erklärt, warum wir die Zeilen der alten Dichterinnen für besser halten, als die der neuen „(Aber) die lebenden Dichter drücken ein Gefühl aus, das gerade erst entsteht und in diesem Augenblick aus uns herausgerissen wird. Man erkennt es anfangs nicht; oft fürchtet man es aus irgendeinem Grund; man beobachtet es scharf und vergleicht es eifersüchtig und misstrauisch mit dem alten Gefühl, das man kannte. Daher die Schwierigkeit der modernen Lyrik…)“ Sie beklagt auch, warum vom Körper so wenig die Rede ist in der Literatur. Sie hat Recht. Wie eine Krankheit bemächtigt sich die Hitze des Körpers. Die Unterwäsche klebt am Körper. Hitzewallungen signalisieren dem Körper: Abtauchen. Der Körper möchte ganz weichen. Daher kann der Kopf auch nicht mehr denken. Für wen soll er denn noch denken, wenn nicht für seinen Träger? An der Dr. Schneider Strasse wird immer noch ein Kater vermisst. Er hört auf den Rufnamen Bubi.

Wie ist bloss die Unlust in die Welt gekommen? Ich könnte es versuchen zu erklären. Es dürfte nicht bei den Tatsachen bleiben, dass die Bildqualität vor zehn Jahren eine andere war. Ich müsste über die Tatsachen hinauswachsen. Ich möchte jenes Buch schreiben, von dem Bachmann sprach. Aber wer würde es verstehen, sich daran ergötzen (!)? Die Menschen sind furchtbar empfindlich geworden, sie würden ja die blanke Schönheit als Provokation empfinden und sagen: Schau her, sie hat das Wort „Wahrheit“ verwendet! Sie hat „Frau“ gesagt! Der Satz lautet: „Männer sind wie Katzen, aber sie schnurren nicht. Daher brauchen sie die Frau, welche dieses Geräusch erzeugt.“ Was für barer Unsinn! Es ist ja nur ein Beispiel. Früher korrigierte mich meine Schwester jeweils, wenn ich ein Wort falsch aussprach. Darauf antwortete ich stets: „Na und, das ist mir doch egal. Ich spreche das Wort aus, wie ich will!“ So ist es doch. Noch gibt es kein Wörtertribunal. Ich hatte beispielsweise eine Freundin, die hiess Eveline. Ich nannte sie aber Elevin, das war noch vor dem Kindergarten, und ich sollte Recht behalten: Elevin war von der ersten Klasse an Klassenbeste.

Es müsste doch möglich sein, den alemannischen Ordnungssinn mit Phantasie auszukleiden. Frau Bachmann hat es doch vorgemacht! Und Max Frisch hat gesagt: „Man ist nicht realistisch, indem man keine Ideen hat.“ Schon von der ersten Klasse an werden uns die Ideen ausgetrieben. „Das sind jetzt aber Allgemeinplätze“, höre ich jemanden sagen. Und ich antworte: „Vermutlich sind das Allgemeinplätze, aber wenn ich nicht mal mehr auf Allgemeinplätze verweisen darf, wenn wir uns immerzu Nischen des Unproblematischen suchen, dann haben wir unsere Imagination eines Tages auch ausgehöhlt, und sie fällt in sich zusammen wie die Türme des World Trade Centers fielen…(Life auf dem Fernsehbildschirm mit zu verfolgen, damals.)

Bei Hertha Müller las ich einmal: „Das Schweigen im Mund ist ein anderes als das Schweigen im Nacken.“ Die Masseurinnen sind alle ausgebucht, das sieht man bereits an den Haltungsschäden der Menschen in den Strassen. Die Münder aber, die haben das Schweigen geschluckt. Es lässt sich nur noch feststellen, mit was sie das Schweigen füttern, an Supermarktkassen, an der Kinokasse.

Wann begann es, dass meine Gedanken nicht mehr in einem fort fliessen? Dass ich keinen Strom mehr erzeugen kann, ich meine, Energie, sorgfältig kreierte Linearität, eingehüllt in den Duft der Sommerwiesen in der Nacht auf dem Land. Wenn man sich gar nicht so viel wünschen kann, wie Sterne vom Himmel fallen. Heute suche ich in der Überfülle nach einer Essenz, die in früheren Tagen der Hoffnung entsprach. Zwischen den Plastikbergen funkelt manchmal etwas auf, eine Keramikscherbe im Museum von Constanta, und ich werde mir wieder gewahr, was mir fehlt: Die Konstanz.

Das ist nicht meine individuelle Krankheit. Der Soziologe Richard Sennett beschreibt die Erosion der Seele in seinem 1998 erschienen Buch Der flexible Mensch. Das Tempo, die Unsicherheit in der Arbeitswelt, die Konkurrenz, die Job- und Wohnortwechsel bedeuten für die menschliche Seele mehr als gesteigerte Anforderungen. Sennett überlässt die Interpretation der daraus resultierenden Angst und Hilflosigkeit dem Leser.

Wir können gerade mal dafür sorgen, dass wir an der Oberfläche bleiben, dass wir genügend Sauerstoff bekommen, dass uns die erhöhten Ozonwerte nicht im Hals kratzen. Was macht mich heute denn so kränklich?