Warum wir die Tauben nicht verstehen (Entwurf) von Mircea Zerbes

Wir verstehen die Tauben nicht. Die Tauben verstehen uns nicht. Wir sind in der Grammatik gefangen, der Abstraktion von gelebter und noch zu lebender Gegenwart.

Die Tauben aber leben ausserhalb dieses Systems. Sie fliegen.

Ich sass in einem Café an der Schüss und genoss die Junisonne auf meinem Gesicht, während ich in Gedanken langsam weg sank. Was tat ich in dieser Provinzstadt, die zu reich war, um arm zu sein, und zu arm, um über das nötige Selbstbewusstsein zu verfügen, das Grosses erst ermöglicht. Ich dachte an Aurica, meine Taube, der ich nicht hatte folgen können, weil ich in meinem Geist gefangen gewesen war.

Als Kind hatte ich keine Vorstellung vom Begriff „Diktatur“, obwohl meine Mutter deutsch und mein Vater Rumäne war. Wenn ich als Junge und später als Pubertierender in Bukarest meine Grosseltern besuchte, waren es ihre Geschichten, die meinen Blick auf die Stadt und das Land prägten. Die bröckelnden Jugendstilgebäude erschienen mir wie verwundete Körper. Legte ich meine Wange an eine Sandsteinfassade, bildete ich mir ein, ich hörte ihre Blutbahnen rauschen. Aus dem Rauschen wurden Choräle, eine dichte Wolke aus dunklen weh klagenden Rufen, begleitet von einer Violine und einem Piano.

Dass es kein Fleisch zu essen gab, es in der Wohnung oft so kühl war, dass wir mit kalter Nasenspitze uns in Decken hüllen mussten, störte mich nicht, im Gegenteil. Umso mehr genoss ich die Erzählungen meines Grossvaters, während die Grossmutter auf dem Herd einen Griessbrei köchelte, den wir mit den eingemachten Pflaumen, die wir im Herbst eingesammelt hatten, verspeisten. Die Tage verbrachte ich zusammen mit Aurica in den Gassen der Bukarester Altstadt. Aurica lebte mit ihrer kranken Mutter zusammen in der gegenüberliegenden Wohnung, die zum Innenhof hinaus ging, während ich vom Wohnzimmer aus die Strasse beobachten konnte. Am liebsten erkundeten wir die Dachböden fremder Häuser. Tagelang versanken wir im Studium von Schätzen, die niemand mehr an sich nehmen wollte, aber uns dennoch nicht zustanden. Derjenige, der zuerst auf ein ehrwürdiges Objekt stiess, musste jeweils wie eine Taube gurren, um dem anderen zu signalisieren, dass er seine Suche augenblicklich zu unterbrechen hatte. Oft waren wir so vertieft in unsere Schatzsuche oder aber das Gurren war so überzeugend echt, dass wir einander anschreien mussten, was wiederum die Bewohner des Hauses auf den Plan rief.

Als Aurica dreizehn war, starb ihre Mutter an einer Lungenentzündung.

Von diesem Moment an dachte ich jede Sekunde an sie, kaum war ich wieder in Deutschland. Wir schrieben uns Briefe. Sie alleine zu wissen, brach mir fast das Herz. Gleichzeitig betete ich, sie möge keinen anderen Jungen kennen lernen. Ich war in ständiger Alarmbereitschaft, dass sich etwas zwischen uns ändern könnte, dass sie mich eines Tages gleichgültig betrachten und mit der Schulter zucken und „Ach Brüderchen“ sagen würde, während sich ihre schwarzen Korkenzieherlocken, die sie sich hinter die Ohren gestrichen hatte, selbständig machten.  Im darauffolgenden Sommer küssten wir uns ein einziges Mal ganz schüchtern. Wir waren in einen der verbotenen Tunnel hinabgestiegen und hielten uns ängstlich an den Händen, bevor wir von einem Wachmann ans Tageslicht geprügelt wurden. Ich erinnere mich an das Gefühl, der Angst, etwas zu verlieren, als sich unsere Lippen berührten.

Wir sahen uns erst wieder, als ich nach der Revolution mit Mitte zwanzig als Student in die Stadt kam. Ich wollte alles über die Sprache meiner Grosseltern erfahren, was wiederum meine Eltern nicht verstanden, dass ich ausgerechnet in einem zerrütteten Land studieren musste, „mitten im Elend“, stöhnte meine Mutter. Meine Grosseltern waren inzwischen verstorben. Ich begegnete Aurica auf dem Nachhauseweg von der Universität in unser Viertel. Wir waren so aufgeregt, dass wir nicht sprachen und alle paar Sekunden stehen blieben, um uns anzuschauen. Ihre Gesichtszüge waren viel ebenmässiger als ich sie in Erinnerung hatte, sie hatte Sommersprossen bekommen und ihre Augen funkelten wie Bernsteine.

Wir verloren kein Wort darüber, dass wir meine Wohnung ansteuerten, es ergab sich automatisch.

Ich hatte das Gefühl, endlich den missratenen Kuss damals im Tunnel wett machen zu dürfen. Aus der Nachbarwohnung erklang ein altmodischer Schlager, Drumurile Noastre. Er reizte mich zum Lachen. Hätte ich dem Impuls aber nachgegeben, hätte ich die erotische Stimmung ruiniert, und Aurica hätte mein Lachanfall auf sich bezogen, und wir wären für alle Zeiten Brüderchen und Schwesterchen geblieben. Wir zogen uns hastig aus, übermannt von einer unerklärlichen, zwanghaften Lust, die eher der Gier glich. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass Auricas rechtes Ohr viel grösser war als ihr linkes. Ich knabberte an ihrem Ohrläppchen, streichelte mit der Zunge ihre Ohrmuschel, und Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich mich dagegen hätte wehren können. Wie hatte ich Aurica vermisst, und endlich wurde ich mir der Ursache meiner tiefen Melancholie bewusst: Ich hatte all die Jahre niemanden gehabt, der mir zuhörte. Ich hatte verzweifelt versucht, mich einem Ideal eines jungen Mannes anzugleichen, der überhaupt nichts mit mir zu tun hatte. Ich war zwar in der Bundeswehr gewesen, hatte bewiesen, dass ich anpacken konnte. Man mochte meine frechen Sprüche und schätzte meine Hilfsbereitschaft. Aber hinter dieser Fassade war ich der, in tausend Decken gehüllte, kleine Mircea geblieben, der einzig in Auricas Gegenwart sich selbst vergass. Wir küssten uns, zuerst zaghaft wie die Vögel, fragend, dann fordernd, bis wir uns fanden. Ich schien mich in tausend Stücke auf zu splitten. Mein Bewusstsein dehnte sich aus. Ich war dieses Bewusstsein, während ich Auricas Körper erkundete, der sich mir gleichsam wie eine fremde Welt anerbot einzutreten. Ich durchpflügte Felder, leckte Honig, erklomm Felsen und stürzte in die Tiefe.

Auricas Schweigsamkeit deutete ich als Ergriffenheit. Bereits als Kind hatte sie nie viel gesprochen. Am nächsten Morgen wurde mir aber schlagartig bewusst, dass sie sich verändert hatte. Ich war gerade dabei, Kaffee zu kochen, als mir eine Tasse aus den Fingern glitt. Aurica deckte den kleinen Tisch in meiner Küche. Sie hielt nicht inne, drehte sich auch nicht nach mir um. Sie ist taub geworden, ging mir schlagartig durch den Kopf. Die neue Welt, die sich gestern in mir formiert hatte, brach augenblicklich zusammen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass wir Menschen nicht viel mehr waren, als das Resultat der Verarbeitung unserer Sinneseindrücke. Jeder produzierte auf diese Weise seine eigene kleine Miniaturwelt. Ich war blind als junger Mann. Die plötzliche Einsamkeit würgte mich. Eine Woche später reiste ich zurück nach Deutschland. Wäre ich bei Aurica geblieben, hätte ich niemals angefangen zu schreiben. Das wäre natürlich das Naheliegendste gewesen – zu schreiben. Ohne zu warten und ohne zu zögern.