Der Eigentlicher

Kennen Sie das? Da ist jemand, mit dem sie sich blendend verstehen müssten. Eigentlich. Wäre er nicht ihr Bäcker. Ihr Gynäkologe. Ihre Dentalhygienikerin. Der Einfachheit halber konzentriere ich mich in diesem Beispiel auf ein männliches Exemplar, wobei das Geschlecht keine Rolle spielt.

Er hat den gleichen Humor wie Sie, was Sie seltsamerweise nicht gleich bemerken, da Sie beide gebannt auf den Witz warten und keiner gewillt ist, dem anderen ein Lachangebot zu unterbreiten. Zu aufdringlich. Zu forsch. Zu privat. Möglicherweise halten Sie ihn erst für hochnäsig. Oder für zu wenig mutig. Mittelmässig. Doch plötzlich entdecken Sie Kongruenzen: Die gleiche Joggingstrecke, die Vorliebe fürs Schwimmbad, wobei er seine körperlichen Ertüchtigungen eher im Stillen ausübt, fast im Geheimen. Ihr, ich will ihn „Eigentlicher“ nennen, verfolgt seinen humoristischen Ansatz nämlich auf sehr ernsthafte Weise, das heisst, er muss sich selber aus der Schusslinie bringen, damit nicht die Tatsache seiner Körperlichkeit mit seiner Humorigkeit konkurrieren könnte. Nicht dass an seiner Körperlichkeit irgendetwas Seltsames wäre, ausser eben die Geheimhaltung seiner Muskeln, sein sportiver Abgrund. Das verbindet Sie, die enge Jogginghose und der Blick auf den Hintern darin. Er überholt Sie immer.

Dieser Nichtfreund ist besser als ein Haustier, er ist unberechenbar und gleichzeitig so dynamisch wie ein virtueller Freund, der sich zusammen mit den eigenen Gedanken weiterentwickelt. Plötzlich sehen Sie ihn auch im Bioladen. Mit der Katze beim Tierarzt. Man kann ihn nach Belieben mit guten und schlechten Eigenschaften ausstaffieren, daher ist er praktischer als ein realer Freund. Er ist unsere Rosinenschnecke, der Gradmesser unserer gedanklichen Unbeschwertheit, der Helligkeitsgrad unsers gurgelnden Humors. Unser Barometer der Verschlagenheit. Der bewachte Aussenposten unserer Wahrnehmung.

Würde ich Ihnen verraten, wer dieser Nichtfreund ist, würden Sie in die Hände klatschen und ausrufen: „Ja, natürlich! Der Eigentlicher! Warum bin ich nicht darauf gekommen! Den hätte ich auch gerne in meinem Resonanzfeld, so hochschwingend wie er ist!“ Oder aber Sie zucken mit der Schultern und sagen: „Na ja, aber zum Essen würd ich den nie einladen, der frisst wie ein Schwein, und hat er einen geladen, bringst du ihn nicht mehr so schnell aus der Stube raus.“ Ein richtiger Eigentlicher verleitet einem zu närrischen Gedanken. Man möchte sich mit ihm zum Büchsenschiessen treffen, um anschliessend das Pleng-Pleng-Plätsch zu diskutieren. Was denn nun reizvoller sei; das Klirren der Büchsen oder der satte runde Aufprall des Tennisballes, Plong! Ein Eigentlicher weckt Erinnerungen und steht man ihm gegenüber, kommt einfach nix raus. Kein Ton. Kein Lacher. Nichts.

So beginnen Geschichten.