Spurk

Ich steige jeden Tag in den Keller und hole ein Zeitfragment herauf; ein Wort, ein Satz – „Wikileaks“ – und heute ein Gedicht über die Angst.

Früher kannte ich überhaupt keine Scham, Notizheft um Notizheft mit Nebensächlichkeiten aus meinen Gehirnnebelschwaden zu füllen, mit einer Schrift einer Seekranken. Möwengezeter. Bei mir konnte man das Schimpfen lernen, aus dem Kranichholz sprang ich hervor.

Irgendwann wird aus den Zeitfetzen eine Collage, irgendwann, denke ich, wird aus meinem Kistenleben ein Küstenleben, die Zeilen umrandet von seligen Küssen, mit der Anleitung, das Courageheft einzufassen wie früher in der Schule, denn so soll die Erzählung heissen.

Eine Dichterin lehrte uns einst, man solle falsche Sätze gar nicht aufsteigen lassen. Während sie dies sagte, knirschte ihr Unterkiefer, und auf die Nachfrage, ob es ihr denn nie passiere, dass sie Zeilen, die sie tags zuvor angefertigt hätte, löschen müsse (Führen sie wirklich ein so leidenschaftsloses Leben?), antwortete sie. „Nur wenn ich dazu trinke, aber das kommt selten vor.“

„Löschen“ heisst in der Seefahrt, die Fracht an Land bringen, also sollten produktive Dichter ganz viel löschen müssen, vom Brennen für eine Sache ganz zu schweigen. (Ist es denn möglich, sich mit seinen Gedanken vollständig selbst zu versorgen? – Die Geheimdienste können das nicht – Ressourcenerwerbes mittels eines in der Regel grösseren Organismus‘.)

Ich bringe die Gedanken an Land, verpackt in gutem reissfestem Deutsch – man muss es manchmal in einen anderen Aggregatszustand führen, das Deutsch. Ist es zu lange fest, bröckelt es, und man sucht im Mund verzweifelt die Nebensätze zusammen, damit aus den Bröseln doch noch eine süsse Pappe wird. Diese Zielorientiertheit umgeht man mit dem Flüssigen. Und dann wiederum muss man ganz sprachlos werden, sich nur noch muhend mitteilen, nur noch Möwenlaute im Ohr haben, dazu Waschmittel und feuchte barocke Kirchen in der Nase, Gebratenes und schliesslich das Salz der Meeresmündung. Dann lässt sich der Wechsel ins Deutsche wieder riskieren; mit eben einem solch technischen Satz. Eine pädagogische Massnahme: „Liebes Kind, es ist Zeit heim zu gehen. Zieh deine Jacke an und verabschiede dich von deinen neuen Freunden.“

Eine Nachricht ploppt auf; irgendwo werden Pferde gequält.

Eine andere Dichterin kauft für ihren Freund eine Wurst. Eine unsichtbare Spinne webt ein unsichtbares Netz im Bioladen. Mit unseren Gedanken schreiten wir das Netz ab. Vergebens suchen wir nach der Mahlzeit, die wir gemeinsam verzehren könnten. Die Wurst ist es nicht.

Unter „Wikileaks“ steht: „Joseph le Doux“. Ich google den Namen und lese auf Wikipedia: „Ein Schwerpunkt seiner Forschung ist die Neurophysiologie der Angst.“ Wir sind alles rollende Kirschsteine, ausgeschissen vom Schicksal Raubvogel.

Wikileaks enthüllt in diesen Tagen, dass die CIA „False-Flag-Hacking-Angriffe“ durchführt, das heisst, ihre Spuren auf einen vermeintlich anderen Täter lenkt. Da sich nun ehemalige CIA-Hacker im Untergrund befinden, von wo aus sie Morsebotschaften an Julian Assange geben, ist nun überhaupt nicht mehr erkennbar, wer wen hackt. Auf Deutsch gesagt: Es herrscht Anarchie im Tiefenstaat oder der Tiefenstaat löscht sich selber aus, sprich, er trägt seine Machenschaften ans Tageslicht. Um die Sache noch etwas komplexer zu gestalten, sollten wir untereinander nicht nur unsere Mobiltelefone austauschen, sondern auch unsere Samsung-Flachbildschirme, mit denen wir observiert werden. Warum nicht gleich Wohnungen tauschen, Bücher, die Erinnerungen mit Magneten an den Kühlschrank gepinnt, die Handtuchhalter und – Zahnbürsten vielleicht nicht-  aber die Reizwäsche, die Reizwörter, die Schmierseife, die Schnapsfässer, die im Sommer den Männern als Pissoir dienen – um in neue Wälder einzutreten, in denen die Vögel aus der Melancholie der Menschen Gesänge weben, orchestriert von einem unsichtbaren Dirigenten, der sich auf dem höchsten Wipfel vom Wind schaukeln lässt.