Die Sägespäne in der Suppe

„Man muss die Seele von der Feder lassen“, sage ich zu Herrn Jesensky. „Wie machen sie das?“, fragt Herr Jesensky. „Alles hängt an der Feder“, antworte ich, „der Fluss oder Flow wie man heute so schön sagt oder die Work-Life-Balance, wie sie wollen. Es gibt da etwas in uns, ich nenne es altmodisch Seele, das wir auf die Spitze eines Füllfederhalters heften müssen, damit unsere Hand die Arbeit ganz von alleine verrichtet.“ „Aber warum ein Füllfederhalter? Für jemanden, der nicht schreibt, macht dieses Bild doch keinen Sinn.“ „Doch“, protestiere ich, „wir schreiben alle an unserer Lebensgeschichte, ob wir wollen oder nicht. Manche tanzen sie auch. Dann sage ich halt: Hefte dir die Seele an den Schuh – aber das Prinzip bleibt dasselbe: Man muss die Seele von der Feder lassen.“

„Wie geht es ihnen auf dem Land?“, fragt Herr Jesensky. „Meine Seele federt sehr gut, fehlt nur noch der Tee mit Gebäck und entsprechender Visite, leider entspricht die heutige Mode nicht meinem Geschmack, weswegen ich das mit dem Tee sein lasse. Wir halten unsere Mahlzeiten bescheiden, das Geschirr tut das Übrige: Gib uns heute unser täglich Brot, steht auf unseren Tellern. Fragt sich nur, welcher Strohsack den Dank vergessen hat. So bleibt etwas Ungehobeltes in unserem Heim, die Sägespäne in der Suppe, sozusagen. Ich will mich gar nicht auf den Gedanken einlassen, dass die unverschämten Teller uns täglich die protestantischen Sünden vor Augen halten sollen. Mein gesunder Appetit ist der direkteste Gruss an Gott und umgekehrt. Sie sehen, mein Humor ist heute gleichmässig in mir verteilt, auch meine Einfälle hätten durchaus das Potential, neue Möglichkeiten zu durchschiessen…“ „Hätten“, unterbricht mich Herr Jesensky. „Hätten“, wiederhole ich, „aber lassen Sie mich den alten Gedanken zu Ende spinnen, zu spät, er hat sich bereits abgeseilt und baumelt nun wie eine Spinne im leeren Raum.“ „Die Spinne kann sich doch an ihrem eigenen Seil wieder hochziehen.“ „Natürlich, sage ich. Aber jedes Mal, wenn sie sich so existentiell fallen lässt, geht ihr Dopamin total in den Keller runter, jetzt sagen sie nicht, na und, sie wissen, was das bedeutet! Na ja, worauf ich hinaus wollte: Die Leute müssen begreifen, dass der Humor eine Kraft ist, die in uns zirkuliert. Er verbindet unseren Unterleib mit unserem Gehirn. Da können sie gleich die Probe aufs Exempel machen: Sind humorlose Menschen gut im Lakensport? Nein. Sie zerknittern Laken als ob sie Servietten für die Spitzengastronomie falten würden. Fragen sie mich nicht nach Details. Aber ein fehlender Humor geflissentlich zu ignorieren, ist die Grosszügigkeit, die sich ins eigene Fleisch schneidet, die Achillesverse der Grosszügigkeit sozusagen. Wollen sie einen grosszügigen Menschen zur Strecke bringen: Seien sie humorlos. Anderswiederum sind humorvolle Menschen natürlich empfänglich für Sinnesfreuden jeglicher Art, schliesslich sitzt die Lebensfreude im Unterleib, und wenn die Freude nicht ins Gehirn gelangt, ist der grösste Geist nur ein braver Arbeitsmensch mit überflüssigen Attributen wie Schuppen oder Hämorrhoiden.“ „Das leuchtet ein“, sagt Herr Jesensky. „Nun, die politische Borniertheit findet ihren Ursprung in der Verstopfung und Mangelversorgung dieses Kanals. Ich bin keine Freudianerin, der Mann schien mir einen gewaltigen Sprung im Gehäuse gehabt zu haben, aber die Kraft von Symbolen wusste er einzusetzen! Den Phallus, den er in unsere Hirnrinde geschnitzt hat, leckt keine Geiss in tausend Jahren weg, so geschickt hat er das Terrain für jegliche Abstrusitäten bereitet, dass ich nun rein „zufällig“ auf eine solche Satzstruktur stosse, die mich in den Bereich schwarzmagischer Dialektik bringt. Aber so schliesst sich der Kreis des unterversorgten Unterleibs, der sein Schlachtfeld in die Politik ausweitet, um wiederum von dort auf die ungefederten Geister zurückzuwirken.“ „Hoppla“, sagt Herr Jesensky. „Ja, Hoppla“, sage ich. „Ist das Ihr Konjunktiv?“ „Ja“, sinniere ich, das ist Teil meiner Konjunktivschwäche. Die Wirklichkeit.“ „Langsam dringen wir zum Kern vor“, sagt Herr Jesensky, während er seine Stirn in Falten legt. „Warum sagen sie nicht gleich zur Kernspaltung?“ „Die Probleme haben sich potenziert“, sagt Herr Jesensky. „Sie haben Recht, die Atombombe ist nicht unser einziges Problem.“ Herr Jesensky seufzt: „Ihr Problem ist, dass sie immer vom Hundertsten ins Tausendste schiessen.“ „Dass Freud mit der Atombombe zusammenhängt, dafür kann ich doch nichts. Die altgriechische Praxis, die er geschickt ins intellektuelle Feld geführt hat, hält heute das ganze Politgesindel in Schach.“ Herr Jesensky denkt nach. „Ausserdem ist die Psychoanalyse die schlimmste Manipulationstechnik. Der Seelendoktor steigt ins Kinderzimmer der Leute, lässt nach seinem Gutdünken Familienmitglieder darin auftreten, rückt da Möbel rum, bekritzelt Zeichnungen und schneidet in Stofftiere. Wenn der Patient nach der kleinen Reise in die Vergangenheit wieder auftaucht und sich miserabel fühlt, lehnt sich der Analyst zurück und sagt: „Voilà, endlich haben wir den Schmerz!“, den notabene er selbst ausgelöst hat.“ „Die Psychoanalyse wird heute auch nicht mehr in der Form praktiziert“, wendet Herr Jesensky ein. „Nur noch von den Geheimdiensten“, sage ich. Herr Jesensky erhebt sich, und schaut mich nachdenklich an. „Noch haben wir Erinnerungen.”