Über Stock und Stein

Ich bin glücklich, viel zu glücklich zum Schreiben. Was soll man denn der Welt auch mitteilen, wenn alle um einen herum laut ausrufen: „Wunderbar!“, „Wunderschön!“ und man ausnahmsweise gleicher Meinung ist. Das ist an Wundern nicht mehr zu überbieten und Wunder in Worte zu fassen, ist schier unmöglich. Man darf sie nur kurz anstupsen, wobei man dabei bereits ihr Verschwinden riskiert. Zerredete Wunder lösen sich auf, als ob sie niemals existiert hätten und der ernüchterte Betrachter beginnt sich zu fragen, ob sein schizophrener Geist, von dem er bisher nichts gewusst hatte, hinter seinem Rücken halluzinogene Substanzen einwarf.

Zurück zu meiner Sprachvorsicht. Ich bin sozusagen direkt ins Nirwana gefallen, um diesen Zustand mit einer nichtssagenden abschwächenden Floskel wie „sozusagen“ sanft einzuleiten. Das Nirwana wohnt in einem Höhenkurort im alten Badehaus gegenüber der Trinkhalle in einer Schlucht, durch die sich der Inn schlängelt. Zu Badezwecken wurde früher das Wasser in ein Reservoir beim Kurhaus hinüber geleitet. Später führte eine Leitung in die Trinkhalle, um fortan im Rahmen von Trinkkuren seine Heilkraft zu entfalten, eingesetzt bei Asthma, Erkältungskrankheiten, Syphilis und bestimmt auch Nervenleiden. Entdeckt wurde die Quelle zufällig bei der Sprengung der Brücke nach Vulpera. Zu Ehren der Königin von Sachsen trug sie fortan deren Vornamen. Welche von Carolinas Qualitäten dafür gesorgt hatte, dass die Königin mit Mineralwasser assoziiert wurde, muss ich erst noch recherchieren. Wahrscheinlich war sie reinen Herzens gewesen.

Vulpera ist heute ein Geisterort. Der Schweizer Hof tront verheissungsvoll auf der Anhöhe, der Haupteingang von mächtigen Tannen abgeschirmt. Ein Gärtner dreht einsam seine Runden mit dem Rasenmäher. Das Hotel hat für drei Jahre geschlossen.

Das Carola-Wasser sollte man nur im Gehen trinken, schluckweise und nicht mehr als ein Glas aufs Mal. Es ist ein Mischwasser, bestehend aus salzhaltigem und salzarmem Sauerwasser. Ich trinke es aus meiner Pet-Flasche, während ich am Golfplatz von Vulpera vorbei schlendere  – wie kann man nur – aber beim Wandern eine Glasflasche mit sich herum zu tragen, ist nicht sehr praktisch und zuweilen gefährlich. Ausserdem könnte ich mir dann nicht Nietzsches skeptischen Blick vorstellen, wenn er das Plastik unter die Lupe nimmt, und über die seltsame Mode sinniert, dass Frauen neuerdings Wasser saufen wie Kälber Muttermilch, sofern diese nach der Geburt nicht gleich von der Mutter getrennt werden, was üblicherweise in der Massentierhaltung geschieht. Der Golfplatzwart pinkelt auf die Strasse, ich blicke zur Seite. Er entschuldigt sich, und ich sage: „Das ist doch kein Problem.“

Um aus dem Nirwana herauszutreten, und in eine profanere Tätigkeit wie das Schreiben zu finden, muss ich immerzu gehen. Ich gehe fünf, sechs Stunden am Tag über Stock und Stein, doch das Gehen, man nennt es Wandern, erfüllt seinen Zweck nicht: Ich werde nur noch glücklicher. Am Abend falle ich wie ein Stein ins Bett und schlafe tief und fest, um morgens um sieben aus den Federn zu springen, und nach dem Frühstück gleich wieder los zu marschieren.

Wenn ich so weiter mache, wird mich der Kunstchef bald in sein Büro zitieren, und mit strenger Stimme ermahnen, mein Gewander zu unterbrechen. Als schlechtes Beispiel eines Frauengewanders wird er Simone de Beauvoir anführen, auf deren Kilometertacho letztendlich unser heutiger Gendermainstreamingquark zurück geht. „Trink nicht so viel Carola-Wasser, sei selbst eine Quelle“, höre ich ihn sagen.

Das ist der Luxus der Schreibstipendiaten, sie haben ihr Atelier im Kopf, geräumig eingerichtet und gut getarnt in ihrem Gehirnstüblein. Sie können jederzeit sagen, sie würden schreiben, sollte dies nicht der Wahrheit entsprechen, wäre es nicht nachzuweisen. Ich weiss, dass ich mit diesem unbedarften Geständnis die Schreiberzunft in Verruf bringe, aber man hat es doch schon längst geahnt! Überdies ist ein Zuwenig an bewegten Autoren ebenfalls festzustellen, also was soll’s! Kriegt Euren Arsch hoch, dann fliegt auch die Feder! Oder: Nur wer etwas isst, kann auch verdauen und wer nicht verdaut, schwebt in Zarathustras Gefilden, und auch der hielt es nicht lange in seiner Sezession aus: Zarathustra musste wieder sprechen, und somit auch zu den Menschen gehen, essen und verdauen.

Auf meinem Wochenendtrip ins Unterland stelle ich fest, dass etwas in mir zu sprudeln beginnt, und ich freue mich, aufs Rauschen des Wassers in meiner Schlucht.