Engadins Topten

Der Neuankömmling setzt sich zuerst in diese Bar, von wo aus er die beste Sicht auf die Lischana geniesst; im Hintergrund leises Live-Pianospiel, dazu gibt’s montags ein Gläschen Prosecco gereicht, ein Willkommensdrink für die neuen Gäste. Am Nebentischchen sitzen Fernsehmoderatoren, Zeitungen liegen aus, für den Fall, dass sich noch jemand für das scheinbare Weltgeschehen interessieren sollte.

Das ist absolut toll. Am Strand setzt man sich ja auch in die Strandbar und nicht in die Spelunke im verruchtesten Viertel der Stadt.

Aber irgendwann, nachdem man die Gespräche der Schweizer Prominenz belauscht, das Repertoire des Pianisten kennt, die Krawatte des Kellners einen kleinen, kaum wahrnehmbaren Flecken aufweist und sich im Blick des Portiers die namenlosen Stunden des einsamen Dienens spiegeln, ist die Zeit gekommen, den Willkommensflirt zu beenden. Die eigene Argwohn, die sich früher oder später unweigerlich einstellt, wenn man zu lange an schönen Orten ist, soll das Feriengefühl der Gäste nicht stören. Ihnen gehören die dunkelrot ausgekleideten unterirdischen Direktzugänge zum Thermalbad, die familiäre Gemütlichkeit des Unterengadins. Noch wissen sie nicht, dass ein Pizokel auch ein Halbschuh ist.

Ich will jetzt nicht davon reden, welche Abgründe sich einem als Unterländerin im Unterengadin auftun können. Wer sich auf unwegsames Gelände begibt, tut dies schliesslich auf eigenes Risiko. Nun, eines ist gewiss: Man muss die Talsohle durchschritten haben, um wieder an Höhe zu gewinnen. Oder anders gesagt: Die besten Dinge sieht man erst, wenn sich der Schleier der Illusionen lüftet. So ist also meine Topten der besten Dinge im Engadin entstanden. Durch Versuch und Irrtum, Wanderschuhe und Sonnencrème.

 

  1. Die Bäckerei Café Erni ist mein heimliches Odeon. Hier denke ich über die schützenswerten verstaubten Mobiliare und deren gesellschaftspsychologisch höchst wertvolle Funktion nach. Ich blättere in der Gala, um beruhigt diese Nichtwelt wieder auf den Zeitschriftenstapel zurückzulegen, und mich mit einem Bissen Dinkelbrötchen ganz meiner Gegenwart zu vergewissern.

 

  1. Morgens um sieben in Sent auf dem Plaz auf den Bus zu warten, während sich bereits ein Tag wie aus dem Bilderbuch ankündigt. Seit ich hier lebe, bin ich mit dem Morgen versöhnt; die glasklare kalte Luft suggeriert ein Meer von Möglichkeiten, das in meinem ausgeruhten Bergler-Ich sanft rauscht. Während sich die Lungenbläschen öffnen, sammeln sich langsam die Frühaufsteher. Bun di!

 

  1. Überhaupt wird wohl das Licht im Engadin der eigentliche Grund für das Wohlbefinden seiner Bevölkerung sein. Wer im Engadin nicht zumindest die Möglichkeit der Lichtnahrung in Betracht zieht, muss tagein tagaus eine Sonnenbrille tragen und hat wohl niemals Segantini gesehen. „Der Himmel ist extrem klar – ein warmes sattes Blau – das macht alles so leicht, als ob die Kälte nicht existierte, die Mühsal. Nur Stille. Und die Berge sind so scharf umrissen“, schreibe ich einem Freund auf Facebook. Auf dem Foto, auf Facebook und Instagram wird man dieses Licht nie sehen.

 

  1. Eines meiner ersten Wörter in Rumantsch war Pendicularas. Wenn morgens die Arbeiter der Bergbahnen in einer Linie zur Bahn marschieren, muss ich unweigerlich an Armageddon denken. Nicht, dass ich glaube, dass die Welt auf dem Motta Naluns untergeht, um Himmels Willen! Die Männer erinnern mich mit ihrem stolzen schweren Gang einfach an Astronauten, die Verantwortung tausender Skigäste auf ihrem Rücken tragend. Und wie sie abends den Hang herunterflitzen – mit Lichtgeschwindigkeit!

 

  1. Eine besondere Berufsgattung sind natürlich unsere Buschauffeure, wie die Grosis in meiner Heimat die Chauffeure possessiv bezeichnen, ganz so, als ob es ihre Söhne wären. Die Engadiner Chauffeure bestechen durch ihren Charme und ihre nie enden wollende Freundlichkeit, wobei sie Wert darauf legen, dass die Dörfer richtig ausgesprochen werden. Nichts ärgert einen Chauffeur mehr als ein S-Chanf mit rauhem ch ausgesprochen.

Aber wo sonst öffnet ein Chauffeur während der Fahrt die Türen, um auszurufen: „Ein Hirsch! Schaut, ein Hirsch!“ Ich werde dem Tourismusbüro vorschlagen, ein Panini-Album mit Scuols Buschauffeuren rauszubringen, inklusive der Mannschaft der Rhätischen Bahn, die ebenfalls Nerven wie Drahtseile und eine Hilfsbereitschaft an den Tag legt, als ob das Engadin in Nordthailand läge.

 

  1. Wo gute Männer sind, fehlt es natürlich nicht an guten Frauen. Ein Typ Frau ist mir hier besonders aufgefallen: Die Physiotherapeutinnen und Kosmetikerinnen. Sie sind sportlich, gutaussehend, humorvoll, unkompliziert, in sich ruhend, kurz: Hier im Engadin wohnt die perfekte Frau. Das sollte man vielleicht den Miss-Schweiz-Veranstaltern mitteilen. Sucht nicht mehr. Hier sind sie, die Missen. Ihre Amtszeit ist niemals begrenzt.

Sowohl unsere Herren vom Panini-Album wie die Lieblingsfrauen im Pflege- und Wellnessbereich sind natürlich verheiratet. Das Engadin liefert den Beweis, dass die Ehe glücklich macht.

Was die Engadiner in ihrem Eheleben allerdings anders und besser machen, das gilt es noch zu ergründen. Es scheint aber irgendwas mit den Hirschen zu tun zu haben.

 

  1. Beim Wandern werde ich still, und in die Stille fallen die Erkenntnisse. Im Val Plavna gelingt es mir besonders gut abzuschalten. Bin ich in Alaska oder der Schweiz?

 

  1. Natürlich liebe ich die hohe Energie im S-charl. Hier fühlt man förmlich, wie sich jede einzelne Körperzelle öffnet und mit Licht und Sauerstoff versorgt wird.

 

  1. Die Wälder. Ich warte sehnsüchtig auf das Parfum Forest Engiadina.

 

1.Die Quellen.

Die Quellen, die Gipfel und die Wälder sind gefährlich. Hat man einmal vom reinen Wasser getrunken, die Kontemplation in der Höhe genossen, den Duft der Arvenwälder in der Nase, führt kein Weg mehr zurück. Man ist für immer verzaubert.

 

Grazia fich Engiadina!