Vom Schreiben und Straucheln

Im folgenden Text bevorzuge ich die männliche Form, Schriftsteller und Autor im Sinne eines Mediums, das sich der Sprache zur Verfügung stellt, wobei die weiblichen Schriftsteller und Autoren selbstverständlich mitgemeint sind.

Kürzlich wurde ich gefragt, wie oft ich denn schreiben würde, wie man sich eine Schreibpraxis denn so vorstellen könne. Das ist eine heikle Frage, denn ums Schreiben ranken sich viele Mythen.

Das Idealbild zeigt den Dichter in seiner Klause, manisch schreibend, Tag und Nacht. Er ist ganz in seiner Parallelwelt versunken. Nur einmal am Tag bringt ihm ein herzensgutes altes  Weiblein eine dampfende Schüssel vorbei, und nach ein paar Monaten ist ein Meisterwerk vollendet.

Es sind wenige, die es sich leisten können, sich für Wochen komplett zurückzuziehen, die den Mut und die Entschlossenheit aufbringen für Wochen auf die Aussenwelt zu pfeifen und auf das eigene Leben zu verzichten. Wer schreibt, der lebt nur halb. Der Schriftsteller lässt das Leben durch sich hindurch aufs Papier fliessen, ohne selber daran Teil zu nehmen.

Es gibt Schriftsteller, die fühlen sich erst durchs Schreiben lebendig. Mir ist nur alleine ganz wohl, und Schreiben rechtfertigt das Alleinsein, wobei ich mein Wohlsein nicht immer mit Schreiben ausfüllen muss. Schreiben ist eine Erweiterung des Bewusstseins. Manchmal ist mir auch einfach nach Implodieren zu Mute.

Oft fürchte ich mich auch, die Welt des Schreibens zu betreten, nicht weil mir da unangenehme Dinge begegnen könnten. Es liegt ja ganz in meiner Macht, mit wem ich mich in jener Welt einlasse oder auch nicht. Nein, ich fürchte mich vor dem Schreiben wie ein Chefkoch vor dem Abendservice; davor, dass etwas schief laufen könnte  – und wenn in der Gastronomie etwas schief geht, dann ist der Abend meist gelaufen. Ein Steak zu lange auf dem Grill, eine Reservation wurde falsch notiert, der Thunfisch auf dem Menu geht aus, die Kellnerin bringt den falschen Wein an den Tisch, und der Souschef schneidet sich so arg in den Finger, dass er in die Notaufnahme muss. (Wenn Sie das Adrenalin in ihrem Leben vermissen, gehen Sie einfach mal probeweise ein paar Tage kellnern oder lesen Sie Anthony Bourdain. Danach werden Sie den Missbrauch von Betablockern verstehen.)

Schreiben ist natürlich weitaus weniger dramatisch. Wenn ich mitten im Satz strauchle, beginne ich einen neuen Satz. Kein verärgerter Gast, keine ruinierte Bluse. Mein Erröten bleibt unbemerkt. Wenn ich aus einem Abschnitt rausfalle, helfen meist ein paar Atemzüge oder ich setzte ein paar Strassen weiter mit einer anderen Figur wieder ein, und widme mich später der Baustelle. Manchmal hilft aber weder Ersteres noch Letzteres und ich kann meinen eigenen Text nicht mehr betreten. Türe zu. Feierabend. Komm morgen wieder. Oder noch schlimmer: Komm gar nicht mehr.

Auch wenn diesem Versagen keine Zeugen beiwohnen, sind diese Momente traurig. Ich fühle mich dann wie eine Betrunkene, die schlagartig nüchtern wird, verraten, im Stich gelassen: Der eigene Text will mich nicht mehr. Bist wohl doch nicht so gut wie du gemeint hast, hä?

Diese furchtbaren Momente der Desillusionierung müssen also der Grund für die Schreibmanie sein. Der Schriftsteller will möglichst lange vom Flow profitieren, daher darf er seine Tätigkeit auf keinen Fall unterbrechen. Jede Störung von aussen birgt die grösste Gefahr dieses Eimers Wasser, der sich plötzlich ohne Vorwarnung über ihn und seinen Text ergiesst.

Eine Möglichkeit, diese Situationen zu umgehen, ist, den Anfang hinauszuzögern, sich gedanklich auf den Text vorzubereiten, vielleicht noch ein bisschen zu recherchieren, dieses und jenes Buch zu lesen, sich mit Ideen anzufüllen.

Dann wird die Wohnung geputzt. Ein Freund braucht unbedingt Unterstützung bei der Vorbereitung eines Festes. Die Sonne scheint, endlich eine Runde joggen gehen und sofort. Und sofort kennt unzählige Interpretationen. Am schönsten ist das süsse Nichtstun, wenn man etwas tun sollte.

Ein Schriftsteller, könnte man sagen, ist ja niemandem Rechenschaft schuldig. Wenn er nicht schreibt, nun denn! Schreibt ihm irgendjemand vor, wie viele Bücher er publizieren muss? Es mag Autoren geben, die sich vertraglich gleich für mehrere Bücher verpflichten, aber letztendlich hängt jedes Buch nicht zuletzt von der Inspiration des Autors ab. Es ist sinnlos, mit einem ideenlosen Autor zu schimpfen. Diesbezüglich braucht der Autor keine Sanktionen zu fürchten.

Sind aber Autoren die viel schreiben auch produktiver? Oder produzieren sie einfach mehr für die Schublade, als jene Autoren, die wochenlang nicht schreiben, um in einem manischen Monat ein fixfertiges Manuskript hinzulegen?

Ein russisches Sprichwort sagt, dass Quantität irgendwann zu Qualität führt.

Wir Menschen sind Meister darin, uns vorzumachen, uns einer Sache zu widmen, während wir in Wirklichkeit gar nicht so viel Zeit investieren, wie wir meinen. Wir wollen beispielsweise mehr Sport machen, und halten nach Sportangeboten Ausschau, was uns bereits das Gefühl gibt, etwas für unseren Körper getan zu haben.

Schreiben entlarvt diese Trägheit. Ich kann mir zwar Gedanken über einen Text machen, aber solange ich ihn nicht schreibe, existiert er nicht. Das Schreiben erschafft erst neue Gedankengänge und Paralleluniversen; mit jedem Satz entrollt sich eine neue Wirklichkeit, mit mir als Zeuge und als Schöpferin – dieser Prozess lässt sich gedanklich nicht vorwegnehmen, genauso wenig wie ein Rendezvous; die pointierten Bemerkungen, die man sich wie ein Pingpongbällchen zuspielt, sachte die potentielle Schwächen des Gegenübers abtastend, die spitzen kurzen Lacher und die zugewandten Schulter- und Halspartien…

Ach ja. Nur hingehen muss ich zu meiner Verabredung, rausgeputzt mit klopfendem Herzen und moderaten Absätzen.

PS: Ich schreibe übrigens öfters, als dass ich Verabredungen habe…