Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit / Ein Versuch über die Wahrheitssuche

Im Dschungel Nordthailands ging mir eines Abends, mutterseelenalleine auf der Gemüseplantage, die ich für Kost und Logis wässerte, auf, wie die Wahrheit mit dem fünften Chakra zusammenhängt. Ich wusste zwar von dieser Beziehung, verstand aber erst in diesem Moment die volle Tragweite Ich hatte auf der offenen Feuerstelle auf der Terrasse der Bambushütte ein Feuer gemacht und sang Lieder, da ich mich im Umkreis von einem Kilometer alleine wähnte.

Das fünfte Chakra befindet sich etwas unterhalb des Kehlkopfes, und steht für unseren Selbstausdruck, die Kreativität und die Fähigkeit, unsere Wahrheit auszudrücken. Für unsere moralische Entwicklung ist es von zentraler Bedeutung, für unsere Wahrheit einstehen zu können. Erst dann erfahren wir uns als integeren und authentischen Menschen.

Befassen wir uns nicht mit der Wahrheitsfindung, steht nicht nur unsere intellektuelle und spirituelle Entwicklung auf dem Spiel; auch auf der physischen Ebene kann sich die Blockade bemerkbar machen. Vielleicht kennen Sie Menschen, die immer nur leise sprechen oder nuscheln. Ich selbst konnte mit zwanzig zwar vor zweihundert Leuten einen Text vortragen, aber mich im Seminarraum zu äussern, war für mich der Horror. Mit hochrotem Kopf habe ich kryptische Sätze von mir gegeben, mit dem Resultat, dass ich mich das nächste Mal vor dem Erröten fürchtete und in Panik geriet, wenn ich aufgefordert wurde, etwas zu sagen. Wenn ich mich heute im Alltag eher zurückhalten gebe, liegt das daran, dass ich dazu neige, übers Ziel hinauszuschiessen. Die Gefahr schwingt latent mit. Deswegen schreibe ich ja auch. Es gibt nicht viele Autoren, die gemäss Kleist „ihre Gedanken beim Reden verfertigen“. Mir fällt spontan Ruth Schweikert ein. Sie eröffnet beim Sprechen in Nebensätzen mindestens zehn Schauplätze, um sich abwechselnd auf sie zu beziehen. Mir gefällt diese Art zu sprechen, da ich beim Zuhören ADHS-Symptome zeige, und bei Langeweile innerlich emigriere.

Die öffentlichen Diskurse bieten ziemlich viele Anlässe, sich zu langweilen. Die Meinungen sind verteilt. Sie befinden sich links oder rechts. Ja, wo ist auf der Welt denn links? Darauf wird mit eben einer links angesiedelten Meinung geantwortet, da! Da wo das Herz ist! Die rechte Ecke wiederum ist ein Schandfleck. Was aus dieser Ecke hervorgebracht wird, ist indiskutabel. Mit diesen Zirkelschlüssen kann man sich ewig im Kreis drehen, Familien, Freundeskreise und ganze Nationen spalten ohne jemals über Inhalte zu sprechen.

Die Diskurse schliessen eigentliche Diskussionen aus. Die Wahrheitssuche ist viel mehr zu einem „1, 2 oder 3“ verkommen, der Quizshow für Kinder, wo es heisst: „Ob ihr richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht.“

Linke unterstellen den Rechten, sie hätten den Wahrheitsbegriff gekapert. Ihr Einstehen für die Wahrheit sei das Unvermögen, mit der Komplexität der Welt umzugehen. Für die Rechten hingegen steht fest, dass die Linken die Wahrheit mit der 68er Generation und der besungenen Postmoderne in die Tonne getreten haben. Warum nicht auf den Komposthaufen, Himmel!

Wo ist sie aber denn nun zu finden, die Wahrheit?

Nach Hannah Arendt besteht Hoffnung. Im Wirrwarr der politischen Propaganda entlarvt sich die Lüge dadurch, dass auch sie letztendlich auf eine Tatsache referiert; etwas muss zuerst vorhanden sein, um geleugnet zu werden.

Oder aber Probleme müssen erfunden werden, um sie erfolgreich zu bekämpfen. Attentate und Angriffe werden unter „falscher Flagge“ verübt, um sie dem Gegner in die Schuhe zu schieben.

Im Umkehrschluss lässt sich also nur über die Dinge streiten, die sind.

Was also ist? Journalisten stolpern beim „Sagen, was ist.“ Sie erfinden Geschichten mitsamt Protagonisten, weil die Realität zu wenig hergibt wie der jüngste Spiegel-Skandal aufzeigte. Sind die Dinge aber zu unangenehm, konzentriert man sich auf den Überbringer der schlechten Botschaft, und versucht diesen zu diffamieren. Im schlimmsten Fall drohen Haft und die Verurteilung wegen Landesverrates.

Der Weg also führt unweigerlich über die eigene Subjektivität.

Was ist meine Lebenswelt? In welcher Gemeinschaft lebe ich? Welche Werte pflegen wir? Die Wahrheit braucht ein Fundament, um nicht im Boden eines destruktiven Nihilismus‘ zu versickern. Als aufmerksame Beobachter sorgen wir dafür, dass nicht nur der Boden fruchtbar bleibt, sondern auch die Luft strahlenfrei.

Brauchen wir 5G? Wozu? Warum erzählt man uns nichts über die Gefahren? Gemäss einer objektiven Berichterstattung müsste bei der Einführung einer neuen Technologie das Dafür und das Dawider beleuchtet werden. Gerade wenn die Gesundheitskosten explodieren, sollte doch jeder potentielle Kostenverursacher geortet werden.

Die Lüge entlarvt sich nicht selten durch Argumentationslücken, logische Fehlschlüsse, Behauptungen, Wiederholen der Behauptungen, Diffamieren von Kritikern.

Mit der politischen Lüge geht oft ein Schüren von Emotionen einher. Angst bereitet den Boden zum Erlass neuer Gesetzte zum Schutze der Bevölkerung, Vorbereiten von Präventivkriegen zur Verteidigung einer scheinbar so freien Welt. Als ob Kriege jemals Frieden geschaffen hätten.

Überwachung im öffentlichen Raum, erweiterte Nachrichtendienstkompetenzen und die Datensammelwut der Social-Media-Giganten sollen bei gleichzeitig offenen Grenzen für Sicherheit sorgen, während die Rüstungsindustrie munter Gewinne einstreicht und westliche Regierungen Diktaturen unterstützen.

In China gibt es bereits Pilotprojekte, die ein digitales Punktesystem testen, welches das soziale Verhalten der Menschen beurteilt. Entsprechend der Punktezahl wird der Zugang zu Dienstleistungen gewährt oder untersagt.

Bis 2020 soll das Sozialkredit-System in China implementiert sein. In diesem Sinne könnte die Headline der Südostschweiz vom 30. April 2019 zum Seidenstrassen-Gipfel nicht treffender sein: „China verspricht mehr Transparenz“.

Die weltpolitischen Entscheide können wir keinem Faktencheck unterziehen, wenn wir nicht selbst in die Welt ziehen und mit den Menschen vor Ort sprechen. In Rongcheng beispielsweise.

Wir können aber entscheiden, wie viel Welt für uns von Belang ist, ob wir das Fliegen und damit das Entdecken und Erfahren anderer Wirklichkeiten aufgeben wollen, um 3% des weltweiten vom Menschen verursachten CO2-Ausstosses zu eliminieren, und wie wir unseren Verstand einsetzten, um die Informationsfetzen zu verarbeiten.

In der Provinz Shandong werden wir wohl kaum die Wahrheit erfahren, da sich die Menschen aus Furcht vor Strafpunkten wohl hüten werden, Kritik am neuen Punktesystem zu äussern.

Aber wir können Bundespräsident Ueli Maurer fragen, welche 30 Bereiche Gegenstand der bilateralen Dialoge zwischen China und der Schweiz waren; unter ihnen Finanz- und Steuerthemen, Wissenschaft und Menschenrechte wie wir den Medien entnehmen.

Bei der Seidenproduktion wird die Raupe lebendig gekocht; die Produktionsstrasse bauen wir gerade mit auf; 5G, Elektroauto und Zugang zum chinesischen Meer. Was wollen wir mehr!

Erst wenn wir zu unserer individuellen Wahrheit stehen, und das Beste aus unseren Talenten machen, beginnt die Welt aus uns heraus zu entstehen. Wir verlassen unseren Kokon, der uns zwar lange geschützt hat, uns aber nun von geistigen Höhenflügen abhält. Es dürfte kein Zufall sein, dass es heute so viele Castingshows gibt, aber keine wirklich eigenständigen Stimmen. So viele Ausbildungen, aber keine Fachkräfte. Etc. …

Solange wir an der Wahrheitsfindung gehindert werden, sei dies durch einseitige Berichterstattung, eingeschränkten Informationsfluss durch neue Datenschutzbestimmungen, Zensurmassnahmen auf sozialen Netzwerken zwecks Eindämmung sogenannter Hassreden, als ob Hass wie ein Virus auch das reinste Herz infizieren könnte, ein veraltetes Schulsystem, das die Neugierde abtötet, anstatt sie zu füttern, schlechter Nahrung, Pestiziden, etc., können wir uns nicht zu jener integeren Person entwickeln, die in der Lage ist, die Welt bewusst wahrzunehmen und zu gestalten.

Wir leben unter unseren Möglichkeiten, und das ist die wirkliche Tragödie; angepasst, leidenschaftslos, passiv, wie der Mensch in Platons Höhlengleichnis, der die Schatten an den Wänden nicht als Projektionen erkennt, geschweige denn seine Höhle als Gefängnis.

 

PS:

Für Kant darf die Wahrheit niemals geopfert werden, auch dann nicht, wenn wir dadurch jemanden vor dem Tod retten könnten, da, so Kants Argumentation, niemand den Lauf des Schicksals kennt und sich sicher sein kann, dass besagter Todeskandidat nicht am nächsten Tag an einem Unfall stirbt.

Nach Kant bildet die Wahrheit die Basis der Demokratie. Wer sie einmal Preis gibt, schafft den Raum für die Willkür.

(Eine Verurteilung wegen Landesverrates durch die Veröffentlichung geheimer Dokumente ist daher zutiefst undemokratisch.)