Barceloneta

Das Meer gehört den alten Frauen und Männern, die mit nackten, ledernen Bäuchen bereits morgens um neun im Februar gemächlich den Strand abschreiten.

Mit derselben Ruhe beobachten die Bergler ihre Felsen und Gletscher, die Wolken und die Stille, die sich ganz in ihrem Inneren ausbreitet.

Auf der Carrrer de Marina lächelt ein Strassenkehrer beim Anblick der jungen Fussballmannschaft – die Spieler sind höchstens fünf. In seinem Lächeln liegt die Liebe und die Zukunft der Kinder.

Am Horizont ragt die Sagrada Familia empor, das Licht ist milchig sanft und spricht von stillen Wintermonaten, während die Tauben zwischen den prächtigen Jugendstilbauten hindurch segeln.

Eine Mutter reicht ihrem kleinen Mädchen ein Küchlein, wie es sie bei uns während der Fastnacht gibt. Für eine Sekunde sehe ich mich mit Kind auf dem Arm in einer lichtdurchfluteten Wohnung in dieser Stadt. Hier hätte mein Leben klare Konturen mit einem Kleiderschrank voller schicker Kostüme. Bis der Sturm aufzöge und der Stuck von der Decke bröselte. Dass ein Leben hier undramatisch verläuft, kann ich mir nicht vorstellen. Und wenn ich jetzt so drüber nachdenke, wird mir klar, dass uns in der Schweiz einfach die Sprache fürs Drama fehlt. Das Schweizerdeutsch suggeriert, dass am Ende alles doch nicht so schlimm ist. Als Jugendliche rebellierte ich dagegen. Gegen die Verleugnung der Seelenmarter. Jahre später stelle ich erstaunt fest, wie viele Mani Matter Lieder ich immer noch auswendig singen kann.

Damals war ich achtzehn, als ich mit meiner Schulklasse zum ersten Mal in Barcelona war. Ich reiste einen Tag später als meine KameradInnen mit dem Flieger an. Da ich drei Monate in London verbracht hatte, meinte meine Lehrerin, ich würde den Weg vom Flughafen zur Herberge schon alleine finden. Ein Unbekannter führte mich durchs gotische Viertel. Am nächsten Tag tauchte er wieder vor der Unterkunft auf, und fragte nach mir. Noch heute kriecht die alte Scham wieder hoch. Dass ich einem Fremden meinen Namen nannte.

(Das Drama der Jugend besteht darin, entweder über- oder unterschätzt zu werden. Und später, wenn unsere Ausstrahlung unserem Können entspricht, sind wir für die anderen plötzlich unsichtbar, weil jeder damit beschäftigt ist, gesehen zu werden, meist ohne es zu wissen, doppelt blind, für sich selbst und die anderen.)

Mein Helfer hatte mich weder angefasst noch später weiter verfolgt. Das Ereignis versickerte in der Bedeutungslosigkeit – schliesslich habe ich zig Male später Menschen nach dem Weg gefragt, und gab ebenfalls unzählige Male Auskunft – und doch klopft es heute an die Wand meiner Erinnerungen.

Seltsamerweise scheint unser inneres Archiv ein Eigenleben zu führen. Was sich uns auf unserem Weg einprägt (abgesehen von bewussten Lerninhalten), was später wieder in unserem Gedächtnis aufflackert, darauf haben wir wenig Einfluss. Die abgerufenen Erinnerungen wiederum verändern sich, abhängig von der Bedeutung die wir ihnen beimessen. So verändern wir die Vergangenheit. So verändern wir die Zukunft.

Und schon bald liegt dieser Teil der Vergangenheit ganz brach, wenn niemand mehr einen Strassennamen kennt, und uns nur noch elektronische Geräte den Weg weisen.

In einer fremden Stadt sucht man oft vergebens nach dem perfekten Restaurant und landet dann doch meist in der Knelle, in der die Pommes im gleichen Öl wie die Calamares schwimmen, und die Einheimischen Toast essen und sich mit den Nachbarn auf einen Espresso treffen.

Man trinkt einen Orangensaft und breitet den Stadtplan aus, um einen neuen Entschluss zu fassen.

Seltsamerweise erinnere ich mich oft gerade an jene Cafes, an diese scheinbar unbedeutenden Momente, und taste in meinem Gedächtnis nach dem Ereignis, das jenen Szenerien eine besondere Bedeutung verliehen hätte. Wie damals auf einem Hügel in Florenz, wo ein alter fast zahnloser Mann im Cafe zu meiner Schwester und mir sagte: „Bei eurem Anblick kann man den Schirm getrost zu Hause lassen.“ Asymmetrische Komplimente, die erst Jahre später ihre Wirkung entfalten, in meiner unübersichtlichen Atmosphärenbibliothek aufbewahrt.

Abends im Hotel lese ich Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Das Buch handelt davon, wie wir unser Inneres mit Worten auskleiden, und wie die Worte zu Vorstellungen werden, die uns wachsen lassen, und worauf es im Angesicht des Todes ankommt: Auf die Poesie:

Während des Lesens, des Betrachtens der Bilder oder des Hörens von Musik lässt man die Vergangenheit ruhen, nicht im Sinne des Vergessens, sondern des anstrengungslosen Loslassens, und man lässt sich von keinen angestrengten Erwartungen an die Zukunft die Gegenwart verstellen oder verwischen. Die poetische Gegenwart ist wie herausgehoben aus dem Fluss und der drängenden Abfolge des zeitlichen Geschehens.

Mit achtzehn nahm ich viele Reize gleichzeitig auf, ohne dass ich über ein Ordnungssystem verfügt hätte. All diese Dinge. All diese Gefühle. All diese Ungereimtheiten. All diese Gerüche. All diese Laute. All diese Worte. Vermischten sich.

Ich erinnere mich an ein Feuerwerk, das mit klassischer Musik untermalt wurde, auf welchem Platz bloss? Plaça d’Espanya. Meine Empfindungen überschlugen sich. War das Kitsch? War das Poesie? War das alles nicht zum Verzweifeln? Das Menschsein. Die Unzulänglichkeiten. Die Einsamkeit jedes Einzelnen. Im Feuerwerk vereint.

Damals hatte ich sehr oft Choräle im Kopf. Die Musik war in mir drin, ich war die Musik, ohne dass sich meine Musikalität durch eine besondere Begabung ausgedrückt hätte.

Die Atmosphäre, die Mentalität der Stadt blieben mir fremd. Vielleicht aus stillem Protest, weil Barcelona nicht meine Wahl gewesen war? Später schrieb ich ein Gedicht: Nacktschwimmen in Barceloneta. Ich war damals nicht schwimmen. Aber der Stadtstrand versprach Abenteuer und weite Welt.

Wir müssen uns erst einen Fokus erarbeiten, um ihn aufzugeben. Eine erweiterte Wahrnehmung zu haben, heisst, mit dem Fokus zu spielen, sein Augenmerk auf viele Dinge gleichzeitig zu richten, ohne überflutet zu werden. Absichtslosigkeit ist höchste Konzentration. Standhaft sein wie ein Felsen. Angesicht des Wahnsinns, des Schreckens, des Trostes. Wenn die Bettler nicht mehr betteln dürfen, dann bauen sie riesige Sandburgen am Strand, in der Hoffnung, dass jemand ihre Leistung honoriert.

Ich erinnere mich an die Worte des pensionierten Wirtschaftsprofessors auf einer Thailandreise, der im Alter erkannt hatte, dass eine Sandburg gleich viel Wert haben kann wie ein Porsche. Wir verbrachten drei Tage zusammen, bis er sagte: Du isst zu viel.

Beim zweiten Besuch dieser Stadt war ich Ende zwanzig. Mein Fokus war die Kunst. Und einmal am Tag muss ich für eine Stunde schweigend am Meer sitzen, sagte ich zu meiner Schwester.

Zum ersten Mal zähle ich die Zeit in Jahrzehnten.

Dieses Mal gibt es eine hohe Polizeipräsenz und viele Bio- und Vegan-Angebote. Die Revolte ist institutionalisiert. Jeden Morgen werden die Gassen der Altstadt komplett runter gewaschen. Spätestens dann haben sich die Obdachlosen davongemacht.

Abends stehen die afrikanischen Migranten in kleinen Grüppchen rum und halten ein Bündel leere Dosen, mit einer Schnur zusammengeknüpft, in der Hand. Ich weiss nicht, welchen Zweck die Dosen erfüllen.

Es ist seltsam, man gewöhnt sich an alles: An die Handys, die Online-Kommunikation, die Zensur, die Falschmeldungen, die Reizüberflutung, die Gewalt und die Kriege, solange wir nicht direkt betroffen sind, ans vegane Essen, an den Verzicht auf Alkohol und Zigaretten. Wir stülpen uns Gewohnheiten wie Kostüme über, um sie irgendwann gegen andere einzutauschen. Aber irgendetwas bleibt immer gleich. Irgendwo sitzt der Kern, in den wir uns zurückziehen und aus dem heraus wir uns immer wieder neu erfinden können.

Wo die Wahrheit sitzt. Wo der Wunsch nach Frieden steckt. Aus dem heraus Bach geschaffen hat.

Am Morgen fällt es mir ein. Damals mit achtzehn in Barcelona habe ich meine rechte Kontaktlinse verloren. Ich verbrachte die Tage auf einem Auge blind.

Und der Platz auf dem ich über die Jahrzehnte und die Gewohnheiten nachgedacht habe, heisst: Plaça George Orwell.