Ich-Analyse und Zeitreisen

Ich lausche dem Ticken der Uhr und betrachte meine weissen Wände, die meine Gedanken zurückwerfen. Dann lege ich Tschaikowski auf. Der Raum weitet sich, öffnet sich, warum bin ich nicht vorher drauf gekommen? Man kann ja nicht ewig lesen, auch wenn ich mir das gerade wünsche; All meine ungelesenen Bücher einfach „erfassen“ zu können, durch den Blick aufs Cover. Ich stelle mir vor, wie ich die Bücher mit einem Röntgenblick scanne, denn ich möchte alles gleichzeitig lesen, alles gleichzeitig verstehen. Anscheinend habe ich die Essenz des Lesens nicht kapiert: Den Genuss. In kleinen Häppchen Erkenntnisse gewinnen, innehalten, das Gelesene verdauen, in den eigenen Gedankenkosmos integrieren, es auf praktische Fragestellungen anwenden. Auf diese Weise habe ich heute eine wundersame Reise unternommen. Ich lese neben Murakamis “1Q84″, was übrigens der Sitation auch sehr gerecht wird, Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse.” Bevor ich mir was zu Essen kochte, las ich die Kapitel „Identifizierung und „Verliebtheit und Hypnose“. Freud geht davon aus, dass der Mensch in der Verliebtheit sein Liebesobjekt zu seinem nicht erreichten Ich-Ideal macht: „Man liebt es (das Liebesobjekt) wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich auf diesem Umweg nun zur Befriedigung seines Narzissmus‘ verschaffen möchte.“ Wie wir wissen, dient bei Freud letztendlich alles der Lustmaximierung und der Unlustvermeidung. Nach dem Essen legte ich mir die Karten. Kartendecks eigenen sich in diesen Tagen gerade für Singles sehr gut. Es geht dabei nicht darum, die Zukunft vorauszusagen oder einen Ist-Zustände abzubilden. Die Karten geben einzig einen Hinweis, wie man eine Situation auch noch betrachten könnte. Ich zog die Lust. Die Karte ermuntert nicht nur zu sexuellen Genüssen sondern zu jedwelcher Lustmaximierung in alltäglichen Handlungen, und zuletzt auch zum Lustgewinn beim Ergründen seiner Ängste und Schmerzen. Das ist natürlich keine Ermunterung zu selbstverletzendem und anderem masochistischen Verhalten. Auch die Meditationspraxis lehrt, dass sich Ängste und Schmerzen auflösen, wenn man in sie hinein spürt, und sich ganz der Gefühlsregung überlässt, sich fallen lässt. (Was natürlich nicht heisst, dass Krankheiten durch Meditation in zehn Minuten verschwinden.) Dadurch lassen sich Blockaden lösen und ursprünglich  negative Gefühle transformieren, und in der Kunst, Literatur und anderen kreativen Tätigkeiten sublimieren. So entwickelte ich in der anschliessenden Meditation die Idee, meine Wohnung in ein Ministerium der Liebe zu verwandeln, mit den Mitteln, die mir in meiner Wohnung zur Verfügung stehen. Erkrankungen der Atemwege gelten in der Psychosomatik als Hinweis darauf, seinen Raum einzunehmen. Und das müssen wir ja gerade alle lernen… Nun also wieder zurück zu meiner Lesepraxis und den Vorzügen des langsamen Lesens. Wie schnell lässt sich das Gelesene materialisieren! Dass mich Freud einmal zum Verschönern meiner Wohnung inspiriert, hätte ich nicht erwartet. Meine ehemalige Psychologielehrerin hätte die reinste Freude an meinen praktischen Anwendungen der freudschen Lektüre. Auf die Wohnungsumgestaltung brachten mich die Bilder all der Wohnungen und Zimmer, in denen ich mich in den letzten Jahren alleine und isoliert gefühlt habe. Ich ging zurück in mein Kinderzimmer und erinnerte mich daran, wie ich mir damals Geschichten erzählte, wenn ich Hausarrest hatte, wie ich die Wände bemalte und wie wir Geschwister Sonntags immer unsere Zimmer umgestalteten und dazu die Hitparade mit Reto von Gunten hörten. Wir liebten Reto von Gunten wie ein Familienmitglied. Fiel er mal aus, schimpften wir über den unzulänglichen Ersatzmoderator. Und natürlich nahmen wir die Sendung auf Tonband auf, um unsere Lieblingslieder später wieder abspielen zu können. Ich liebte David Hasselhoff, Phil Collins und Tina Turner. Und schliesslich sprangen die Bilder zu einem Seminar an der Hochschule der Künste mit Res Ingold. Im Progr bauten wir in einem Atelier aus den Materialen, die wir zufällig in der Stadt auftrieben, eine Gefängniszelle. Darin haben wir Kursteilnehmer schliesslich performt, wild und spontan, und doch ergab am Ende irgendwie alles einen Sinn. Ich trug einen fiktiven Liebesbrief eines Knastis vor – jetzt bin ich in gewisser Weise selber dieser Knasti. In einem persönlichen Gespräch riet mir Res „einfach immer Spuren zu legen“ als Antwort auf mein ernüchterndes brotloses Dasein. Gerade in dieser Zeit entfaltet dieser schlichte Satz seine ganze Schönheit und Hoffnung. Ist es nicht seltsam, wie manche Sätze erst nach Jahren wie Blüten aufgehen? Wie uns Bekannte aus der Vergangenheit wieder zuwinken – und verschwörerisch flüstern: „Wir werden alle wieder zusammenfinden, wenn wir nur unsere Spuren hinterlassen!“ Die Reise durch meine Vergangenheit machte mir deutlich, wie viel kreativer ich im analogen Zeitalter war – oder wie ich den Raum anders einnahm, mich anders bewegte. Ich las laut Gedichte, performte sie. Ich konnte mich viel konzentrierter meinen Geschichten widmen. Wie mühelos tauchte ich in die magische Atmosphäre meiner Gedankenwelt ein. Und meine Fiktionen spiegelten sich in meiner Alltagswelt, um noch ein bisschen zu verweilen, um mir Gesellschaft zu leisten und zu versichern: Du bist auf dem richtigen Weg. Wie süchtig war ich damals nach diesem schwärmerischen Zustand! Und jetzt, ganz langsam, stellt sich der Flow wieder ein, jeder Lufthauch bringt mir ein Stück dieser verloren geglaubten Kraft zurück, jedes Mal, wenn ich am Fenster stehe, und in den Himmel schaue. Aber damals, mit siebzehn, als ich zu schreiben begann, kam noch etwas anderes hinzu: Die Verliebtheit in das Leben, natürlich im Wechsel mit den tieftraurigen Phasen, aber auch diese lebte ich bedingungslos, exzessiv.  Möglich war alles, und ich wollte alles. Und wenn ich mich heute nach etwas sehne, dann nach dieser Wildheit; rauszugehen, zu tanzen, Menschen zu treffen, die nicht hypnotisch auf ihre Bildschirme starren. Gespräche zu führen, frei von der Leber weg, zu lachen, sich zu umarmen, Menschen zu riechen, ihr Herz schlagen zu hören. Ja, ich stelle mir vor, dass die Menschen nach diesem Spuk wieder so sind wie früher. Und vielleicht ist das ja möglich, wenn sie diese Zeitreise in die Vergangenheit auch machen, und ihr verloren geglaubtes Ich mit dem jugendlichen Übermut, den Träumen und der Neugierde mitnehmen ins Jahr 2020. Und vielleicht lassen sich die Digital Natives ja auf unsere Erzählungen ein, um es selbst auszuprobieren: Das alte, verloren geglaubte Leben