Das Leben der schönen Menschen

Mein Blick fällt auf das Foto auf der Geburtstagstorte. Zwei bildhübsche herausgeputzte Menschen, die zusammen ein perfektes Paar abgeben, lächeln zuckersüss mit perfekten Zähnen in die Kamera. „Das Leben dieser schönen Menschen“, denke ich, „ist ein ganz anderes Leben.“ Ein Leben zum Anbeissen und Abschlecken. Nathalie und Alexander.

Sie haben zusammen auf dem Maturaball getanzt, sie in einem langen, pinken, tief ausgeschnittenen Samtkleid mit Strasssteinchen, er klassisch im Frack mit Zylinder. Beide waren angenehm beschwipst vom Malibu Orange. Da sie nicht die gleiche Klasse besuchten, kannten sie sich nur flüchtig, vom Ping-Pong-Spielen in den 10-Uhr-Pausen. Das sollte sich aber an diesem Abend ändern. Sie sprachen über ihre Zukunftspläne. Alexander wollte Jus studieren, Nathalie Psychologie. Eine solide Ausbildung zu haben, war ihnen beiden wichtig; sie wollten später einmal Stutz verdienen, um sich schöne Reisen und nette Restaurants leisten zu können. „Ich bin schon ein wenig ein Tussi“, lachte Nathalie, „ich liebe schöne Schuhe und Kleider im Stil von Carrie Bradshaw, ja, sie ist mein absolutes Vorbild. Welche Frau möchte nicht auch ein wenig so sein wie sie!“ Alexander zog die Augenbraue hoch, und Nathalie fügte lachend hinzu: „Sex and the City“. Alexander schwärmte ihr von „The Wolf of Wall Street“ vor, und dass er Wirtschaftsanwalt werden wolle. „So wird heute Politik gemacht“, sagte er mit bedeutender Stimme. Sie sprachen auch darüber, dass sie beide gerne einmal Kinder hätten, und beide waren sie entzückt, wie ähnliche Vorstellungen sie doch vom Leben hatten. Später am Abend bestätigte ihnen der erste Kuss, dass auch ihre Berührungen miteinander harmonierten, und Nathalie trennte sich nur deshalb frühzeitig von Alexander, weil sie fühlte, dass das jetzt eine überaus ernst zu nehmende Sache war, und die Dinge mit der grössten heiligen Feierlichkeit zu geschehen hatten.

Am darauffolgenden Tag holte sie Alexander zum Schwimmen ab. Bei dieser Gelegenheit lernte er schon mal Nathalies Eltern kennen. Sie tranken im Garten eine alkoholfreie Bowle im Schatten des Nussbaumes. Nathalies Mutter lächelte den jungen Mann entzückt an, während der Vater von Alexanders Wissen über das Wirtschaftssystem beeindruckt war. „Bei diesen Leuten würde ich gerne meine Sonntage verbringen“, dachte Alexander, und war gleichzeig erstaunt, wie natürlich die Gespräche dahin flossen, so als ob sie sich bereits lange kannten.

Nun, ich könnte meine Geschichte jetzt noch endlos in die Länge ziehen. Wie die beiden am abgelegenen Moosbachsee splitternackt badeten, ihre Berührungen aus Scheu und Ehrfurcht vor ihrer gemeinsamen Geschichte, die sekündlich zu etwas ganz Grossem heranwuchs, doch zügelten. Wie sie schliesslich in den Sommerferien eine Radtour durch Frankreich unternahmen, wo sie vor Fett triefende Croissants im Lavendelfeld verschlangen, wie ihre Gastgeber sie stets verwöhnten, da sie ein so schönes Paar abgaben. So anständige junge Leute mit grossen Visionen.

Ich könnte weiter ausführen, wie sie ihre Studienzeit genossen. Sie zogen bald zusammen, beiden war klar, dass sie heiraten wollten. Nathalie wartete nur auf den Antrag, und Alexander auf den perfekten Moment. Den perfekten Moment kann man sich entweder beim Sonnenuntergang im Rosenlauital oder beim Bungeejumping vorstellen. So luftig war ihre Liebe, und doch waren sie beide so geerdet, naturverbunden und mit den Schweizer Tradition verwachsen. Sie pilgerten nicht nur jährlich ans Gurtenfstival, nein, sie liebten ebenso Schwingerfeste und Bowlingabende. Alexander und Nathalie hatten einen grossen Freundeskreis. Sie hatten zwar ihre konservativen Ansichten, aber spiessig waren sie nicht. Im Gegenteil, mit den beiden konnte man Pferde stehlen, und sie hatten stets für alle ein offenes Ohr. Nathalie leistete Freiwilligenarbeit in der Gassenküche, während sich Alexander politisch engagierte.

„Jetzt reicht’s langsam“, sagen Sie? „Hat denn dieses Paar keine Abgründe?“ Nein, dieses Paar hat die schönste Altbauwohnung der Stadt Bern, mittlerweile haben beide nach erfolgreichem Studium und Praktika ihre festen Jobs, in denen sie beständig aufsteigen, aber da will ich jetzt nicht weiter ins Detail gehen. Vielmehr gewähre ich noch einen kurzen Einblick in besagte 5-Zimmerwohnung mit Dachterrasse im Marzili. Die Zimmer sind lichtdurchflutet, die Decken hoch, mit Stuck versehen. Die Möbel alles Einzelstücke, Anfertigungen vom Schreiner oder Juwelen an Brocantes ergattert. An den Wänden hängen stilvolle Schwarzweissfotografien eines Fotografen aus ihrem Freundeskreis, grossformatig aufgezogen, passend zum weissen Ledersofa. Die Schlafzimmerwände zieren Aktfotos von Nathalies schlankem Körper mit ihren kleinen kompakten Brüsten und ihrem Bauchnabelpercing, aber das ist eigentlich ein Geheimnis, verzeihen Sie meine Indiskretion. Was sich im Innern ihrer Nachtischschublade befindet, können Sie sich selbst ausmalen.

„Die Torte“, reisst mich eine Kundin aus meinen Gedankengängen, sie hätte eine Geburtstagstorte bestellt. Ich schaue die Dame verwundert an. Ihr dunkler Haaransatz verrät, dass ihr Blond nicht echt ist. Sie ist ungeschminkt, ihre Haut aber rein und glatt. Sie trägt eine ausgeleierte Jogginghose und sieht einfach umwerfend aus – wie die Tochter von Michelle Hunziker. Ich präsentiere ihr die Torte: „Wunderschön!“, ruft sie begeister aus. Sie dankt mir herzlich für unsere Dienstleistung, dass wir auch in diesen Zeiten für unsere Kunden da seien, und auch an Sonntagen. „Das machen wir doch gerne“, sage ich. Und die Göttin der Morgenröte protestiert, dass das keine Selbstverständlichkeit sei und hinterlässt ein grosszügiges Trinkgeld, womit sie ihre perfekte Erscheinung in dieser Geschichte bestätigt.

Vielleicht, denke ich, wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich nicht als Trinity aus Matrix an meinen Gymerball gegangen wäre.