Heimat auf der Zeitinsel

Die Menschen erscheinen mir so weit entfernt, als ob ich verkehrt rum durch ein Fernglas schaute.

Sie wirken noch temporärer als sonst – obwohl wir doch alle auf derselben Zeitinsel gestrandet sind.

Ich überreiche ihnen Kaffee in Pappbechern, auf Wunsch füge ich Zucker und Kaffeerahm bei, das verschafft mir das Gefühl, mich besonders fürsorglich um sie zu kümmern. Ich möchte jeden einzelnen von ihnen trösten, und schaufle eifrig Croissants in Tüten: „Hier bitte, nehmt. Geht nach Hause und frühstückt mit Euren Liebsten. Laugengipfeli, Fiesta- und Grahamgipfeli. Und hier noch Semmeln, Brötchen und ein Butterzopf. Hört einfach am besten gar nicht auf zu frühstücken. Nehmt auch noch dieses 6-Kornbrot oder vielleicht ein Urdinkelbrot? Ach was, nehmt einfach beide und ein Nussbrot obendrauf. Hier, bitte. Und für die Kleinen gibt’s auch noch ein Zopfhäsli. Und zum Nachtisch ein Schokohase. Schaut, was für eine grosse Auswahl wir haben. Der Osterhase bringt uns täglich Nachschub. Ja, das tut jetzt gut. So ein bisschen Ostern ist jetzt Balsam für die Seele. Dann hat man wenigstens schon ein bisschen vorgefeiert und braucht dann an der richtigen Ostern nicht ganz so traurig zu sein, weil nicht die ganze Familie zum Brunch kommen kann oder darf. Zumindest sollte sie nicht, Grossmama und Grosspapa brauchen jetzt viel Ruhe. Weil sie schon alt sind, werden sie schneller krank als die Jungen, deswegen müssen sie zu Hause bleiben und zu Hause bleibt man gesund. Und Jesus besucht alle, keine Angst, er hat Zeit genug. Nein, verschicken würd ich so ein Schokohase nicht. Ich kann ihnen nicht versprechen, dass er hält. Manche Hasen gehen auch zu Bruch. Ich weiss, das ist traurig. Aber so ist das bei uns Menschen ja auch. Manchmal bröckeln wir, ob wir wollen oder nicht. Das kann auch über Nacht geschehen. Gerade in diesen Tagen kommt das zuweilen vor, dass jemand der heute noch ganz ist, morgen bereits Risse aufweist. Aber ich will Euch nicht deprimieren. Nehmt doch noch ein paar Osterfladen mit. Die haben eine schöne Textur, schmiegen sich wohlig an den Gaumen an, wenn der Bauch eigentlich schon satt ist. Am Nachmittag lasst Euch doch einfach zu einer Cremeschnitte verführen. Eine Cremeschnitte ist immer gut gegen die Verzweiflung, da es aussichtslos ist, sie vornehm zu essen. Einfach rein damit, mit Gabel und Händen. Vom Messer rate ich Euch ab. Damit veranstaltet Ihr nur eine unnötige Schlacht auf Eurem Dessertteller. Es ist nicht die Zeit für affektiertes Gehabe. Ja gut, wenn Ihr Truffes haben wollt, bitte gerne. Ein bisschen von allem und am meisten von den alkoholischen? Ja, ja, ich kenne meine Pappenheimer, gell.

Wie es uns denn so geht da hinter der Theke? Gut, danke, ausgezeichnet. Ihr müsst jetzt wieder nach Hause, und ich darf noch ein bisschen hier beim Brot bleiben, das ist schön. Das Brot vermittelt mir ein Gefühl von Heimat hier auf dieser Zeitinsel.“

Ich lege das Fernglas weg und starre Löcher in die Luft.