Zuckerschock & die atemberaubendste Heldin unserer Tage

Befördert die literarische Fresslust: “Magdalenas Sünde” von Romana Ganzoni

Ich verzichte weitgehend auf Süssigkeit. Den Zuckerkick hole ich mir durch Datteln oder Bananen. Aber so ein paar Ausnahmen im Jahr gibt es schon – wenn ich es nicht schaffe, an der veganen „bakery bakery“ in Bern vorbeizugehen, ohne mir ein Carac oder eine Cremschnitte einpacken zu lassen.

 

Jetzt habe ich aber etwas gelesen, was genau dieses Zuckerglück hervorruft. “Magdalenas Sünde” von Romana Ganzoni.

 

Ich habe die Sätze nicht verschlungen, nein, ich habe sie gefressen. Erst habe ich manierlich die wunderbarsten Sätze mit grünem Leuchtstift hervorgehoben. Gegen Ende der Lektüre verlor ich die Beherrschung; ich musste diese Literatur ohne Punkt und Komma in mich hineinstopfen, während ich nicht mehr aus dem Lachen, Staunen, und Weinen herauskam. Ja genau!, rief ich innerlich nach jedem neuen Bild. Womöglich verspüren Männer beim Fussballschauen diesen Kick. Tor! Hurra! Und Ganzoni schnappt sich wieder den Ball – und: Tor!

 

Dabei ist Romana Ganzonis Stoff nicht gerade was für zarte Gemüter, wobei sie ihn in etwas Zartschmelzendes verwandelt. Niemals hat jemand in der Weltliteratur vornehmer gekotzt als diese Magdalena, eine ehemalige Prostituierte, die sich ihren Lebensunterhat als Bäckerei- und Confiserie-Verkäuferin im Zürcher Oberdorf verdient, wo sie regelmässig acht Berliner verschlingt, um sie zusammen mit ihren Seelenqualen wieder herauszuwürgen. (Die Berliner aus der Theke ersetzt sie jeweils mit den billigen Mulipack-Berlinern aus dem Coop.)

Den sehr bescheidenen Lohn stockt sie mit Dirty Talk-Einlagen hinter der Verkaufstheke auf. „Sie unterstrich diese Gespräche, indem sie die Stückchen in der Auslage oder – zur Ankurbelung der Fantasie, wie sie sagte – hinter einem Karton drangsalierte.“

 

Magdalena hat Stil („Geschmack konnte zwar jede anstreben, wie die Eleganz, es ging dann wohl ein bisschen vorwärts, zwei, drei Meter, wahrer Geschmack war angeboren wie ein separater Sinn.“), obwohl sie sich öfters in Situationen widerfindet, wo andere längst um ihre Würde bangten. Das macht sie so faszinierend.

 

Sie lässt sich von ihrem Geliebten, dem „Meteoriten“, einem grössenwahnsinnigen Schriftsteller, demütigen und schlagen. Ihre erste Begegnung verläuft ziemlich unromantisch auf der Herrentoilette des Da Capos am Zürcher Hauptbahnhof. Aus der sexuellen Nötigung schöpft Magdalena Lust. Sie verabscheut dieses Spiel und verliebt sich dennoch in ihren Peiniger, um ihrem Schmerz ein Jahr lang neue Nahrung zu geben, und sich durch die gleichzeitige Lust doch nie mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Und hier gelingt Ganzoni eine Meisterleistung; wir erleben den Wahnsinn aus Magdalenas Perspektive, und die ist nicht schwarz-weiss, sie ist bunt, voller Phantasie, Humor und erhält ihre schrillen und skurrilen Konturen durch ihre scharfe Beobachtungsgabe. Am Ende schliesst Magdalena Freundschaft mit einer Leidensgenossin, die im Wahn gegen den natürlichen menschlichen Instinkt und das Gesetz verstossen hatte. Die Gespräche und Bilder vermischen sich mit der Erinnerung an Magdalenas Pfadifreundin Kakao, der sie einst, um wieder ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, den Freund ausgespannt hatte. (Die Freundschaft hatte sie damals mit der Bemerkung „Lieber ein Vater in einer süditalienischen Garage als unter einer Grabplatte“, ruiniert.)

 

Am Bellevue auf einer Parkbank kehrt schliesslich Ruhe in Magdalenas wilden Gedanken ein. Was Kakao und Marlon Brando damit zu tun haben, sei hier nicht verraten…